ganz richtig an, dass ein Evangelium, dessen Schil- derungen fast durchaus der Anschaulichkeit ermangeln, nicht von einem Augenzeugen in oben bezeichneter Weise herrühren könne, sondern in der Überlieferung gelitten haben müsse. Dass nun aber die übrigen, ausführlicher und anschaulicher erzählenden Evangelien auf Augenzeu- genschaft beruhen, folgt nur unter der Voraussetzung, dass unter unsern Evangelien jedenfalls etliche autoptische seien. Denn allerdings, wenn unter mehreren Erzählun- gen beiderlei vorausgesezt werden: so sind die anschauli- cheren auf Augenzeugen zurückzuführen. Allein jene Vor- aussetzung selbst hat lediglich den subjektiven Grund, dass von der alten Annahme lauter unmittelbar oder mittelbar autoptischer Berichte leichter zu der beschränk- ten Einräumung zu gelangen war, dass vielleicht einem, als zu der allgemeinen, dass möglicherweise auch allen dieser Charakter abgehen möge. Consequenterweise aber fällt mit der orthodoxen Ansicht vom Kanon die Präsum- tion rein autoptischer Berichte nicht bloss für ein oder das andre, sondern für sämmtliche Evangelien weg, es muss die Möglichkeit des Gegentheils bei allen vorausge- sezt, und, wie es sich wirklich verhalte, erst aus der Beschaffenheit der Berichte ermittelt werden. Von die- sem Standpunkt, dem einzig kritischen, die Sache ange- sehen, ist es nun ebensowohl möglich, dass die drei übri- gen Evangelisten die Anschaulichkeit, die sie vor Mat- thäus voraushaben, einer weiteren Ausschmückung durch die Sage, als dass sie dieselbe einem näheren Verhältniss zur ursprünglichen Augenzeugenschaft verdanken.
Sehen wir in dieser Beziehung, um nichts anticipiren zu müssen, auf die bereits gewonnenen Resultate zurück: so ist uns die bestimmtere Bezeichnung der Veranlassun- gen zu manchen Reden Jesu, wie wir sie bei Lukas dem Matthäus gegenüber finden, als spätere Zuthat erschie- nen; die Nennung bestimmter Personen bei Markus (13, 3.
Achtes Kapitel. §. 80.
ganz richtig an, daſs ein Evangelium, dessen Schil- derungen fast durchaus der Anschaulichkeit ermangeln, nicht von einem Augenzeugen in oben bezeichneter Weise herrühren könne, sondern in der Überlieferung gelitten haben müsse. Daſs nun aber die übrigen, ausführlicher und anschaulicher erzählenden Evangelien auf Augenzeu- genschaft beruhen, folgt nur unter der Voraussetzung, daſs unter unsern Evangelien jedenfalls etliche autoptische seien. Denn allerdings, wenn unter mehreren Erzählun- gen beiderlei vorausgesezt werden: so sind die anschauli- cheren auf Augenzeugen zurückzuführen. Allein jene Vor- aussetzung selbst hat lediglich den subjektiven Grund, daſs von der alten Annahme lauter unmittelbar oder mittelbar autoptischer Berichte leichter zu der beschränk- ten Einräumung zu gelangen war, daſs vielleicht einem, als zu der allgemeinen, daſs möglicherweise auch allen dieser Charakter abgehen möge. Consequenterweise aber fällt mit der orthodoxen Ansicht vom Kanon die Präsum- tion rein autoptischer Berichte nicht bloſs für ein oder das andre, sondern für sämmtliche Evangelien weg, es muſs die Möglichkeit des Gegentheils bei allen vorausge- sezt, und, wie es sich wirklich verhalte, erst aus der Beschaffenheit der Berichte ermittelt werden. Von die- sem Standpunkt, dem einzig kritischen, die Sache ange- sehen, ist es nun ebensowohl möglich, daſs die drei übri- gen Evangelisten die Anschaulichkeit, die sie vor Mat- thäus voraushaben, einer weiteren Ausschmückung durch die Sage, als daſs sie dieselbe einem näheren Verhältniſs zur ursprünglichen Augenzeugenschaft verdanken.
Sehen wir in dieser Beziehung, um nichts anticipiren zu müssen, auf die bereits gewonnenen Resultate zurück: so ist uns die bestimmtere Bezeichnung der Veranlassun- gen zu manchen Reden Jesu, wie wir sie bei Lukas dem Matthäus gegenüber finden, als spätere Zuthat erschie- nen; die Nennung bestimmter Personen bei Markus (13, 3.
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Achtes Kapitel. §. 80.
ganz richtig an, daſs ein Evangelium, dessen Schil-
derungen fast durchaus der Anschaulichkeit ermangeln,
nicht von einem Augenzeugen in oben bezeichneter Weise
herrühren könne, sondern in der Überlieferung gelitten
haben müsse. Daſs nun aber die übrigen, ausführlicher
und anschaulicher erzählenden Evangelien auf Augenzeu-
genschaft beruhen, folgt nur unter der Voraussetzung,
daſs unter unsern Evangelien jedenfalls etliche autoptische
seien. Denn allerdings, wenn unter mehreren Erzählun-
gen beiderlei vorausgesezt werden: so sind die anschauli-
cheren auf Augenzeugen zurückzuführen. Allein jene Vor-
aussetzung selbst hat lediglich den subjektiven Grund,
daſs von der alten Annahme lauter unmittelbar oder
mittelbar autoptischer Berichte leichter zu der beschränk-
ten Einräumung zu gelangen war, daſs vielleicht einem,
als zu der allgemeinen, daſs möglicherweise auch allen
dieser Charakter abgehen möge. Consequenterweise aber
fällt mit der orthodoxen Ansicht vom Kanon die Präsum-
tion rein autoptischer Berichte nicht bloſs für ein oder
das andre, sondern für sämmtliche Evangelien weg, es
muſs die Möglichkeit des Gegentheils bei allen vorausge-
sezt, und, wie es sich wirklich verhalte, erst aus der
Beschaffenheit der Berichte ermittelt werden. Von die-
sem Standpunkt, dem einzig kritischen, die Sache ange-
sehen, ist es nun ebensowohl möglich, daſs die drei übri-
gen Evangelisten die Anschaulichkeit, die sie vor Mat-
thäus voraushaben, einer weiteren Ausschmückung durch
die Sage, als daſs sie dieselbe einem näheren Verhältniſs
zur ursprünglichen Augenzeugenschaft verdanken.
Sehen wir in dieser Beziehung, um nichts anticipiren
zu müssen, auf die bereits gewonnenen Resultate zurück:
so ist uns die bestimmtere Bezeichnung der Veranlassun-
gen zu manchen Reden Jesu, wie wir sie bei Lukas dem
Matthäus gegenüber finden, als spätere Zuthat erschie-
nen; die Nennung bestimmter Personen bei Markus (13, 3.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 681. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/705>, abgerufen am 22.07.2024.
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