Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Zweiter Abschnitt. dass sie den Thatsachen näher als der erste Evangelist ge-standen haben müssen. Allein daraus, dass keiner, der durchweg nicht anschaulich erzählt, ein Augenzeuge sein kann, folgt nicht, dass alle anschaulich Erzählenden Au- genzeugen sind, sondern nur dass einige. Wie desswe- gen überall, wo über denselben Gegenstand ein ausführli- cherer und ein kürzerer Bericht vorhanden ist, die Mei- nungen getheilt sein können, ob jener oder dieser der ursprüngliche sei 4); so hat man insbesondre in Bezug auf solche Berichte, bei welchen eine Einmischung der Tradition anzunehmen ist, eine zweifache Funktion der- selben zu unterscheiden: die eine, vermöge welcher sie das Bestimmte der concreten Wirklichkeit in ein Unbestimmtes, das Individuelle in ein Allgemeines verflüchtigt, und die andre, nicht minder wesentliche, an die Stelle der ver- lorengegangenen geschichtlichen Wirklichkeit eine will- kührliche Ausmalung treten zu lassen 5). Schreibt man nun die Unbestimmtheit in der Darstellung des Matthäus- evangeliums auf Rechnung der ersteren Funktion der Sage, so fragt es sich: darf man die Bestimmtheit und Anschau- lichkeit in den übrigen ohne Weiteres als Zeichen zum Grunde liegender Autopsie betrachten, und muss man nicht vielmehr zusehen, ob sie nicht aus jener zweiten Funk- tion der Sage abzuleiten sei? Dass man das Erstere so entschieden voraussezt, ist in der That nur ein Nachge- schmack der altorthodoxen Ansicht, dass unsre sämmtli- chen Evangelien unmittelbar, oder wenigstens durch eine reine Vermittlung, von Augenzeugen herrühren. Dieser Voraussetzung hat die neuere Kritik ihre Allgemeinheit benommen, und die Wahrscheinlichkeit, dass eines oder das andere unsrer Evangelien durch mündliche Überliefe- rung alterirt sein möge, eingeräumt. Dabei nimmt sie 4) vgl. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 42 ff. 5) Kern, über den Urspr. des Ev. Matth. a. a. O. S. 70 f.
Zweiter Abschnitt. daſs sie den Thatsachen näher als der erste Evangelist ge-standen haben müssen. Allein daraus, daſs keiner, der durchweg nicht anschaulich erzählt, ein Augenzeuge sein kann, folgt nicht, daſs alle anschaulich Erzählenden Au- genzeugen sind, sondern nur daſs einige. Wie deſswe- gen überall, wo über denselben Gegenstand ein ausführli- cherer und ein kürzerer Bericht vorhanden ist, die Mei- nungen getheilt sein können, ob jener oder dieser der ursprüngliche sei 4); so hat man insbesondre in Bezug auf solche Berichte, bei welchen eine Einmischung der Tradition anzunehmen ist, eine zweifache Funktion der- selben zu unterscheiden: die eine, vermöge welcher sie das Bestimmte der concreten Wirklichkeit in ein Unbestimmtes, das Individuelle in ein Allgemeines verflüchtigt, und die andre, nicht minder wesentliche, an die Stelle der ver- lorengegangenen geschichtlichen Wirklichkeit eine will- kührliche Ausmalung treten zu lassen 5). Schreibt man nun die Unbestimmtheit in der Darstellung des Matthäus- evangeliums auf Rechnung der ersteren Funktion der Sage, so fragt es sich: darf man die Bestimmtheit und Anschau- lichkeit in den übrigen ohne Weiteres als Zeichen zum Grunde liegender Autopsie betrachten, und muſs man nicht vielmehr zusehen, ob sie nicht aus jener zweiten Funk- tion der Sage abzuleiten sei? Daſs man das Erstere so entschieden voraussezt, ist in der That nur ein Nachge- schmack der altorthodoxen Ansicht, daſs unsre sämmtli- chen Evangelien unmittelbar, oder wenigstens durch eine reine Vermittlung, von Augenzeugen herrühren. Dieser Voraussetzung hat die neuere Kritik ihre Allgemeinheit benommen, und die Wahrscheinlichkeit, daſs eines oder das andere unsrer Evangelien durch mündliche Überliefe- rung alterirt sein möge, eingeräumt. Dabei nimmt sie 4) vgl. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 42 ff. 5) Kern, über den Urspr. des Ev. Matth. a. a. O. S. 70 f.
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Zweiter Abschnitt.
daſs sie den Thatsachen näher als der erste Evangelist ge-
standen haben müssen. Allein daraus, daſs keiner, der
durchweg nicht anschaulich erzählt, ein Augenzeuge sein
kann, folgt nicht, daſs alle anschaulich Erzählenden Au-
genzeugen sind, sondern nur daſs einige. Wie deſswe-
gen überall, wo über denselben Gegenstand ein ausführli-
cherer und ein kürzerer Bericht vorhanden ist, die Mei-
nungen getheilt sein können, ob jener oder dieser der
ursprüngliche sei 4); so hat man insbesondre in Bezug
auf solche Berichte, bei welchen eine Einmischung der
Tradition anzunehmen ist, eine zweifache Funktion der-
selben zu unterscheiden: die eine, vermöge welcher sie das
Bestimmte der concreten Wirklichkeit in ein Unbestimmtes,
das Individuelle in ein Allgemeines verflüchtigt, und die
andre, nicht minder wesentliche, an die Stelle der ver-
lorengegangenen geschichtlichen Wirklichkeit eine will-
kührliche Ausmalung treten zu lassen 5). Schreibt man
nun die Unbestimmtheit in der Darstellung des Matthäus-
evangeliums auf Rechnung der ersteren Funktion der Sage,
so fragt es sich: darf man die Bestimmtheit und Anschau-
lichkeit in den übrigen ohne Weiteres als Zeichen zum
Grunde liegender Autopsie betrachten, und muſs man nicht
vielmehr zusehen, ob sie nicht aus jener zweiten Funk-
tion der Sage abzuleiten sei? Daſs man das Erstere so
entschieden voraussezt, ist in der That nur ein Nachge-
schmack der altorthodoxen Ansicht, daſs unsre sämmtli-
chen Evangelien unmittelbar, oder wenigstens durch eine
reine Vermittlung, von Augenzeugen herrühren. Dieser
Voraussetzung hat die neuere Kritik ihre Allgemeinheit
benommen, und die Wahrscheinlichkeit, daſs eines oder
das andere unsrer Evangelien durch mündliche Überliefe-
rung alterirt sein möge, eingeräumt. Dabei nimmt sie
4) vgl. Saunier, über die Quellen des Markus, S. 42 ff.
5) Kern, über den Urspr. des Ev. Matth. a. a. O. S. 70 f.
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Zitationshilfe: | Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 680. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/704>, abgerufen am 22.07.2024. |