Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Zweiter Abschnitt. sich der vierte Evangelist sonst keineswegs zeigt. Ferner,da bei den übrigen Evangelisten Jesus in ganz anderem Styl und Tone spricht, so müsste, wenn er so, wie bei Johannes, gesprochen haben sollte, die Art, wie jene ihn reden lassen, eine gemachte sein. Dass sie nun aber we- nigstens von den Evangelisten selbst nicht gemacht ist, zeigt der Umstand, dass sie ihres Redestoffs so wenig Meister sind; aber auch von der Sage können jene Reden ihrem grösse- ren Theile nach nicht fingirt sein, wegen ihres nicht bloss höchst originellen, sondern auch völlig zeit- und ortsge- mässen Gepräges. Wogegen der vierte Evangelist sowohl durch die Leichtigkeit, mit welcher er den Redestoff be- herrscht, den Verdacht erregt, nur selbsterzeugten vor sich zu haben, als auch durch Lieblingsbegriffe und Redensar- ten, wie in dem gegenwärtigen Abschnitt ausser den schon angeführten noch der Ausdruck, dass der Vater panta deiknusi to uio, a autos poiei 3), eher auf hellenistische als palästinische Quellen hinweist. Doch das Hauptmoment in dieser Sache ist, dass, wie wir früher schon gesehen ha- ben, auch der Täufer Johannes in diesem Evangelium ganz in denselben Formeln und in dem gleichen Tone spricht, wie der Verfasser des Evangeliums und dessen Jesus. Da es sich hier nicht denken lässt, dass neben dem Evangeli- sten auch der schon vor Jesu als scharf markirter Charak- ter hervorgetretene Täufer seine Ausdrucksweise wörtlich genau nach der von Jesu bestimmt haben sollte: so bleiben nur die zwei Fälle möglich, dass entweder der Täufer die Sprechweise sowohl Jesu als des vierten Evangelisten, der ja auch sein Schüler gewesen sein soll, oder dass der Evangelist die Redeweise sowohl des Täufers als Jesu nach der seinigen determinirt habe. Das Erstere werden die Or- thodoxen mit Rücksicht auf die höhere Natur in Christo 3) s. die von Gfrörer, 1, S. 194., verglichene Stelle aus Philo,
de linguarum confusione. Zweiter Abschnitt. sich der vierte Evangelist sonst keineswegs zeigt. Ferner,da bei den übrigen Evangelisten Jesus in ganz anderem Styl und Tone spricht, so müſste, wenn er so, wie bei Johannes, gesprochen haben sollte, die Art, wie jene ihn reden lassen, eine gemachte sein. Daſs sie nun aber we- nigstens von den Evangelisten selbst nicht gemacht ist, zeigt der Umstand, daſs sie ihres Redestoffs so wenig Meister sind; aber auch von der Sage können jene Reden ihrem grösse- ren Theile nach nicht fingirt sein, wegen ihres nicht bloſs höchst originellen, sondern auch völlig zeit- und ortsge- mäſsen Gepräges. Wogegen der vierte Evangelist sowohl durch die Leichtigkeit, mit welcher er den Redestoff be- herrscht, den Verdacht erregt, nur selbsterzeugten vor sich zu haben, als auch durch Lieblingsbegriffe und Redensar- ten, wie in dem gegenwärtigen Abschnitt ausser den schon angeführten noch der Ausdruck, daſs der Vater πάντα δείκνυσι τῷ υἱῷ, ἃ αὐτὸς ποιεῖ 3), eher auf hellenistische als palästinische Quellen hinweist. Doch das Hauptmoment in dieser Sache ist, daſs, wie wir früher schon gesehen ha- ben, auch der Täufer Johannes in diesem Evangelium ganz in denselben Formeln und in dem gleichen Tone spricht, wie der Verfasser des Evangeliums und dessen Jesus. Da es sich hier nicht denken läſst, daſs neben dem Evangeli- sten auch der schon vor Jesu als scharf markirter Charak- ter hervorgetretene Täufer seine Ausdrucksweise wörtlich genau nach der von Jesu bestimmt haben sollte: so bleiben nur die zwei Fälle möglich, daſs entweder der Täufer die Sprechweise sowohl Jesu als des vierten Evangelisten, der ja auch sein Schüler gewesen sein soll, oder daſs der Evangelist die Redeweise sowohl des Täufers als Jesu nach der seinigen determinirt habe. Das Erstere werden die Or- thodoxen mit Rücksicht auf die höhere Natur in Christo 3) s. die von Gfrörer, 1, S. 194., verglichene Stelle aus Philo,
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Zweiter Abschnitt.
sich der vierte Evangelist sonst keineswegs zeigt. Ferner,
da bei den übrigen Evangelisten Jesus in ganz anderem
Styl und Tone spricht, so müſste, wenn er so, wie bei
Johannes, gesprochen haben sollte, die Art, wie jene ihn
reden lassen, eine gemachte sein. Daſs sie nun aber we-
nigstens von den Evangelisten selbst nicht gemacht ist, zeigt
der Umstand, daſs sie ihres Redestoffs so wenig Meister sind;
aber auch von der Sage können jene Reden ihrem grösse-
ren Theile nach nicht fingirt sein, wegen ihres nicht bloſs
höchst originellen, sondern auch völlig zeit- und ortsge-
mäſsen Gepräges. Wogegen der vierte Evangelist sowohl
durch die Leichtigkeit, mit welcher er den Redestoff be-
herrscht, den Verdacht erregt, nur selbsterzeugten vor sich
zu haben, als auch durch Lieblingsbegriffe und Redensar-
ten, wie in dem gegenwärtigen Abschnitt ausser den schon
angeführten noch der Ausdruck, daſs der Vater πάντα
δείκνυσι τῷ υἱῷ, ἃ αὐτὸς ποιεῖ 3), eher auf hellenistische als
palästinische Quellen hinweist. Doch das Hauptmoment in
dieser Sache ist, daſs, wie wir früher schon gesehen ha-
ben, auch der Täufer Johannes in diesem Evangelium ganz
in denselben Formeln und in dem gleichen Tone spricht,
wie der Verfasser des Evangeliums und dessen Jesus. Da
es sich hier nicht denken läſst, daſs neben dem Evangeli-
sten auch der schon vor Jesu als scharf markirter Charak-
ter hervorgetretene Täufer seine Ausdrucksweise wörtlich
genau nach der von Jesu bestimmt haben sollte: so bleiben
nur die zwei Fälle möglich, daſs entweder der Täufer die
Sprechweise sowohl Jesu als des vierten Evangelisten, der
ja auch sein Schüler gewesen sein soll, oder daſs der
Evangelist die Redeweise sowohl des Täufers als Jesu nach
der seinigen determinirt habe. Das Erstere werden die Or-
thodoxen mit Rücksicht auf die höhere Natur in Christo
3) s. die von Gfrörer, 1, S. 194., verglichene Stelle aus Philo,
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