Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Zweiter Abschnitt. neuen Schöpfung, war den Juden sehr geläufig, nament-lich um die Umwandlung eines Menschen aus einem Göz- zendiener in einen Verehrer Jehova's zu bezeichnen. Von Abraham pflegte man zu sagen, dass er bei seinem von den Juden vorausgesezten Übertritt aus dem Götzendienst zur Verehrung des wahren Gottes ein neues Geschöpf (bryh khdshh) geworden sei 6), und ebenso wurde der Pros- elyt wegen seines Austritts aus allen bisherigen Verhält- nissen mit einem neugeborenen Kinde verglichen 7). Dass diese Redeweise schon in jener Zeit unter den Juden üb- lich war, beweist die Sicherheit, mit welcher Paulus 2 Kor. 5, 17. Gal. 6, 15. den entsprechenden Ausdruck kaine ktisis wie einen keiner weiteren Erklärung bedürf- tigen auf die wahrhaft zu Christo Übergetretenen anwen- det. Verlangte nun Jesus das gennethenai anothen, wel- ches die Juden den zu ihnen übertretenden Heiden zu- schrieben, auch von den Juden, sofern sie in das Mes- siasreich zugelassen werden wollten: so konnte sich Ni- kodemus allerdings über diese Forderung wundern, da der Israelite schon als solcher ein unbedingtes Anrecht auf dasselbe zu haben glaubte, und diesen Sinn hat man daher wirklich in seiner Frage V. 4. finden wollen 8). Allein Nikodemus fragt nicht: pos su legeis dein anthropon anagennethenai Ioudaion oder uion Abraam onta; sondern darüber wundert er sich, dass Jesus vorauszusetzen scheine, es könne ein Mensch, und zwar geron on, aufs Neue eis ten koilian tes metros eiselthein kai gennethenai: es befremdet ihn also nicht, wie einem Juden die geistige Wiedergeburt, sondern wie einem Menschen überhaupt ein leibliches Neugeborenwerden zugemuthet werden könne. 6) Bereschith R. sect. 39 f. 38, 2. Bammidbar R. s. 11 f. 211, 2. Tanchuma f. 5. 2, bei Schöttgen, 1, S. 704. Etwas Ähnliches von Moses aus Schemoth R. ebendas. 7) Jevamoth f. 62, 1. 92, 1, bei Ligntfoot S. 984. 8) So z. B. Knapp, Comm. in colloq. Christi cum Nicod. z. d. St.
Zweiter Abschnitt. neuen Schöpfung, war den Juden sehr geläufig, nament-lich um die Umwandlung eines Menschen aus einem Göz- zendiener in einen Verehrer Jehova's zu bezeichnen. Von Abraham pflegte man zu sagen, daſs er bei seinem von den Juden vorausgesezten Übertritt aus dem Götzendienst zur Verehrung des wahren Gottes ein neues Geschöpf (בריה חדשה) geworden sei 6), und ebenso wurde der Pros- elyt wegen seines Austritts aus allen bisherigen Verhält- nissen mit einem neugeborenen Kinde verglichen 7). Daſs diese Redeweise schon in jener Zeit unter den Juden üb- lich war, beweist die Sicherheit, mit welcher Paulus 2 Kor. 5, 17. Gal. 6, 15. den entsprechenden Ausdruck καινὴ κτίσις wie einen keiner weiteren Erklärung bedürf- tigen auf die wahrhaft zu Christo Übergetretenen anwen- det. Verlangte nun Jesus das γεννηϑῆναι ἄνωϑεν, wel- ches die Juden den zu ihnen übertretenden Heiden zu- schrieben, auch von den Juden, sofern sie in das Mes- siasreich zugelassen werden wollten: so konnte sich Ni- kodemus allerdings über diese Forderung wundern, da der Israëlite schon als solcher ein unbedingtes Anrecht auf dasselbe zu haben glaubte, und diesen Sinn hat man daher wirklich in seiner Frage V. 4. finden wollen 8). Allein Nikodemus fragt nicht: πῶς σὺ λέγεις δεῖν ἄνϑρωπον ἀναγεννηϑῆναι Ἰουδαῖον oder υἱὸν Ἀβραὰμ ὄντα; sondern darüber wundert er sich, daſs Jesus vorauszusetzen scheine, es könne ein Mensch, und zwar γέρων ὢν, aufs Neue εἰς τὴν κοιλίαν τῆς μητρὸς εἰσελϑεῖν καὶ γεννηϑῆναι: es befremdet ihn also nicht, wie einem Juden die geistige Wiedergeburt, sondern wie einem Menschen überhaupt ein leibliches Neugeborenwerden zugemuthet werden könne. 6) Bereschith R. sect. 39 f. 38, 2. Bammidbar R. s. 11 f. 211, 2. Tanchuma f. 5. 2, bei Schöttgen, 1, S. 704. Etwas Ähnliches von Moses aus Schemoth R. ebendas. 7) Jevamoth f. 62, 1. 92, 1, bei Ligntfoot S. 984. 8) So z. B. Knapp, Comm. in colloq. Christi cum Nicod. z. d. St.
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Zweiter Abschnitt.
neuen Schöpfung, war den Juden sehr geläufig, nament-
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zendiener in einen Verehrer Jehova's zu bezeichnen. Von
Abraham pflegte man zu sagen, daſs er bei seinem von
den Juden vorausgesezten Übertritt aus dem Götzendienst
zur Verehrung des wahren Gottes ein neues Geschöpf
(בריה חדשה) geworden sei 6), und ebenso wurde der Pros-
elyt wegen seines Austritts aus allen bisherigen Verhält-
nissen mit einem neugeborenen Kinde verglichen 7). Daſs
diese Redeweise schon in jener Zeit unter den Juden üb-
lich war, beweist die Sicherheit, mit welcher Paulus
2 Kor. 5, 17. Gal. 6, 15. den entsprechenden Ausdruck
καινὴ κτίσις wie einen keiner weiteren Erklärung bedürf-
tigen auf die wahrhaft zu Christo Übergetretenen anwen-
det. Verlangte nun Jesus das γεννηϑῆναι ἄνωϑεν, wel-
ches die Juden den zu ihnen übertretenden Heiden zu-
schrieben, auch von den Juden, sofern sie in das Mes-
siasreich zugelassen werden wollten: so konnte sich Ni-
kodemus allerdings über diese Forderung wundern, da
der Israëlite schon als solcher ein unbedingtes Anrecht
auf dasselbe zu haben glaubte, und diesen Sinn hat man
daher wirklich in seiner Frage V. 4. finden wollen 8).
Allein Nikodemus fragt nicht: πῶς σὺ λέγεις δεῖν ἄνϑρωπον
ἀναγεννηϑῆναι Ἰουδαῖον oder υἱὸν Ἀβραὰμ ὄντα; sondern
darüber wundert er sich, daſs Jesus vorauszusetzen
scheine, es könne ein Mensch, und zwar γέρων ὢν, aufs
Neue εἰς τὴν κοιλίαν τῆς μητρὸς εἰσελϑεῖν καὶ γεννηϑῆναι:
es befremdet ihn also nicht, wie einem Juden die geistige
Wiedergeburt, sondern wie einem Menschen überhaupt
ein leibliches Neugeborenwerden zugemuthet werden könne.
6) Bereschith R. sect. 39 f. 38, 2. Bammidbar R. s. 11 f. 211, 2.
Tanchuma f. 5. 2, bei Schöttgen, 1, S. 704. Etwas Ähnliches
von Moses aus Schemoth R. ebendas.
7) Jevamoth f. 62, 1. 92, 1, bei Ligntfoot S. 984.
8) So z. B. Knapp, Comm. in colloq. Christi cum Nicod. z. d. St.
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