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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Siebentes Kapitel. §. 76.
Wie nun ein Orientale, dem die bildliche Sprache über-
haupt, näher ein Jude, dem insbesondere das Bild von
der neuen Geburt geläufig sein musste, und noch dazu
ein didaskalos tou Israel, bei welchem man nicht, wie
bei den Aposteln, das Missverstehen bildlicher Reden (wie
Matth. 15, 15 f. 16, 7.) auf Rechnung des Mangels an
Bildung schreiben kann, jenen Ausdruck eigentlich verste-
hen konnte, darüber haben sich, wie Jesus V. 10, die Er-
klärer der verschiedensten Parteien immer höchlich ver-
wundert. Daher setzen die einen voraus, der Pharisäer
habe Jesum wohl verstanden, und durch seine Frage ihn
nur prüfen wollen, ob er das bildlich Ausgesprochene
auch in klare Begriffe umzusetzen wisse 9): allein Jesus
wenigstens behandelt ihn nicht, wie er in diesem Falle
musste, als upokriten, sondern als einen wirklich ou ginos-
konta (V. 10); andre drehen die Frage so: im leiblichen
Verstande kann es nicht gemeint sein, weil diess unmög-
lich wäre, wie also sonst? 10) aber die Frage lautet viel-
mehr dahin: das kann ich nur von leiblichem Wiederge-
borenwerden verstehen, wie aber ist diess möglich? Es
bleibt also die Verwunderung über solche Unwissenheit
des jüdischen Lehrers, und diese muss noch steigen, wenn
selbst nach der ausführlichen Erörterung Jesu (V. 5--8.)
darüber, dass die von ihm verlangte neue Geburt ein gen-
nethenai ek tou pneumatos sei, Nikodemus noch auf dersel-
ben Stelle, wie vorher, steht, und, wie wenn er Jesu,
Erklärung überhört hätte, mit verschlossenem Verständ-
niss fragt (V. 9): pos dunatai tauta genesthai; Von die-
sem lezteren Übelstand findet sich auch Lücke so gedrückt,
dass, wie andre Exegeten schon das anfängliche, so er,
wider seinen sonstigen exegetischen Takt, wenigstens das
fortdauernde Nichtverstehen des Nikodemus auf die von

9) Paulus, Comm. 4, S. 183. L. J. 1, a. S. 176.
10) Lücke, 1, S. 452. Tholuck, S. 79.

Siebentes Kapitel. §. 76.
Wie nun ein Orientale, dem die bildliche Sprache über-
haupt, näher ein Jude, dem insbesondere das Bild von
der neuen Geburt geläufig sein muſste, und noch dazu
ein διδάσκαλος τοῦ Ἰσραὴλ, bei welchem man nicht, wie
bei den Aposteln, das Miſsverstehen bildlicher Reden (wie
Matth. 15, 15 f. 16, 7.) auf Rechnung des Mangels an
Bildung schreiben kann, jenen Ausdruck eigentlich verste-
hen konnte, darüber haben sich, wie Jesus V. 10, die Er-
klärer der verschiedensten Parteien immer höchlich ver-
wundert. Daher setzen die einen voraus, der Pharisäer
habe Jesum wohl verstanden, und durch seine Frage ihn
nur prüfen wollen, ob er das bildlich Ausgesprochene
auch in klare Begriffe umzusetzen wisse 9): allein Jesus
wenigstens behandelt ihn nicht, wie er in diesem Falle
muſste, als ὑποκριτὴν, sondern als einen wirklich οὐ γινώσ-
κοντα (V. 10); andre drehen die Frage so: im leiblichen
Verstande kann es nicht gemeint sein, weil dieſs unmög-
lich wäre, wie also sonst? 10) aber die Frage lautet viel-
mehr dahin: das kann ich nur von leiblichem Wiederge-
borenwerden verstehen, wie aber ist dieſs möglich? Es
bleibt also die Verwunderung über solche Unwissenheit
des jüdischen Lehrers, und diese muſs noch steigen, wenn
selbst nach der ausführlichen Erörterung Jesu (V. 5—8.)
darüber, daſs die von ihm verlangte neue Geburt ein γεν-
νηϑῆναι ἐκ τοῦ πνεύματος sei, Nikodemus noch auf dersel-
ben Stelle, wie vorher, steht, und, wie wenn er Jesu,
Erklärung überhört hätte, mit verschlossenem Verständ-
niſs fragt (V. 9): πῶς δύναται ταῦτα γενέσϑαι; Von die-
sem lezteren Übelstand findet sich auch Lücke so gedrückt,
daſs, wie andre Exegeten schon das anfängliche, so er,
wider seinen sonstigen exegetischen Takt, wenigstens das
fortdauernde Nichtverstehen des Nikodemus auf die von

9) Paulus, Comm. 4, S. 183. L. J. 1, a. S. 176.
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[637/0661] Siebentes Kapitel. §. 76. Wie nun ein Orientale, dem die bildliche Sprache über- haupt, näher ein Jude, dem insbesondere das Bild von der neuen Geburt geläufig sein muſste, und noch dazu ein διδάσκαλος τοῦ Ἰσραὴλ, bei welchem man nicht, wie bei den Aposteln, das Miſsverstehen bildlicher Reden (wie Matth. 15, 15 f. 16, 7.) auf Rechnung des Mangels an Bildung schreiben kann, jenen Ausdruck eigentlich verste- hen konnte, darüber haben sich, wie Jesus V. 10, die Er- klärer der verschiedensten Parteien immer höchlich ver- wundert. Daher setzen die einen voraus, der Pharisäer habe Jesum wohl verstanden, und durch seine Frage ihn nur prüfen wollen, ob er das bildlich Ausgesprochene auch in klare Begriffe umzusetzen wisse 9): allein Jesus wenigstens behandelt ihn nicht, wie er in diesem Falle muſste, als ὑποκριτὴν, sondern als einen wirklich οὐ γινώσ- κοντα (V. 10); andre drehen die Frage so: im leiblichen Verstande kann es nicht gemeint sein, weil dieſs unmög- lich wäre, wie also sonst? 10) aber die Frage lautet viel- mehr dahin: das kann ich nur von leiblichem Wiederge- borenwerden verstehen, wie aber ist dieſs möglich? Es bleibt also die Verwunderung über solche Unwissenheit des jüdischen Lehrers, und diese muſs noch steigen, wenn selbst nach der ausführlichen Erörterung Jesu (V. 5—8.) darüber, daſs die von ihm verlangte neue Geburt ein γεν- νηϑῆναι ἐκ τοῦ πνεύματος sei, Nikodemus noch auf dersel- ben Stelle, wie vorher, steht, und, wie wenn er Jesu, Erklärung überhört hätte, mit verschlossenem Verständ- niſs fragt (V. 9): πῶς δύναται ταῦτα γενέσϑαι; Von die- sem lezteren Übelstand findet sich auch Lücke so gedrückt, daſs, wie andre Exegeten schon das anfängliche, so er, wider seinen sonstigen exegetischen Takt, wenigstens das fortdauernde Nichtverstehen des Nikodemus auf die von 9) Paulus, Comm. 4, S. 183. L. J. 1, a. S. 176. 10) Lücke, 1, S. 452. Tholuck, S. 79.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/661>, abgerufen am 23.11.2024.