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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
sie auch, so lange sie wirklich nur aus Leuten aus dem
Volke bestand, sich durch die Reflexion auf Aussprüche
Jesu beruhigte, in welchen er die ptokhous und nepious se-
lieg gepriesen hatte: so konnten doch, sobald Männer von
Stand und Bildung zu derselben übergetreten waren, die-
se nicht anders denken, als dass ihresgleichen auch schon
zu Jesu Lebzeiten ihm angehangen haben müssen. Aber
es war doch von solchen sonst nichts bekannt, musste
man sich einwenden. Natürlich, antwortete man, da die
Furcht vor ihren Standesgenossen sie bewogen haben wird,
ihr Verhältniss zu Jesu geheim zu halten; womit dann
für beliebig viele Vornehme, welche geheime Anhänger
Jesu gewesen sein sollten (Joh. 12, 42 f.), Thür und Thor
geöffnet war. Doch, musste man weiter fragen, wie konn-
ten sie denn unbemerkt mit Jesu zusammenkommen? Un-
ter dem Schleier der Nacht, antwortete man, und hiemit
war die Scene für die Zusammenkünfte solcher Männer
mit Jesu gegeben, sie waren elthontes pros ton Iesoun nuk-
tos (19, 39). Nun musste aber doch auch ein Repräsen-
tant dieser Klasse von Anhängern Jesu auf dem nächtli-
chen Schauplaz wirklich auftreten; es konnte Joseph von
Arimathäa gewählt werden, der in der synoptischen Tra-
dition lebte: allein theils war sein Bild bereits abgeschlos-
sen, theils lag es ja im Interesse der Sage, mehr als Ei-
nen vornehmen Freund Jesu namhaft zu machen, und es
bildete sich daher eine neue Figur, deren griechischer
Name Nikodemos schon den Repräsentanten der volkbeherr-
schenden Klasse anzudeuten scheint 4). Warum nun die-
se Fortbildung der Sage nur im vierten Evangelium sich
zeigt, diess erklärt sich theils aus der, auch nach der ge-
wöhnlichen Annahme, späteren Zeit seines Ursprungs,
theils daraus, dass in dem augenscheinlich gebildeteren
Kreise, in welchem es entstand, die Beschränkung des

4) Man denke nur an die verwandten Namen Nikolaus und Nikolaiten.

Zweiter Abschnitt.
sie auch, so lange sie wirklich nur aus Leuten aus dem
Volke bestand, sich durch die Reflexion auf Aussprüche
Jesu beruhigte, in welchen er die πτωχοὺς und νηπίους se-
lieg gepriesen hatte: so konnten doch, sobald Männer von
Stand und Bildung zu derselben übergetreten waren, die-
se nicht anders denken, als daſs ihresgleichen auch schon
zu Jesu Lebzeiten ihm angehangen haben müssen. Aber
es war doch von solchen sonst nichts bekannt, muſste
man sich einwenden. Natürlich, antwortete man, da die
Furcht vor ihren Standesgenossen sie bewogen haben wird,
ihr Verhältniſs zu Jesu geheim zu halten; womit dann
für beliebig viele Vornehme, welche geheime Anhänger
Jesu gewesen sein sollten (Joh. 12, 42 f.), Thür und Thor
geöffnet war. Doch, muſste man weiter fragen, wie konn-
ten sie denn unbemerkt mit Jesu zusammenkommen? Un-
ter dem Schleier der Nacht, antwortete man, und hiemit
war die Scene für die Zusammenkünfte solcher Männer
mit Jesu gegeben, sie waren ἐλϑόντες πρὸς τὸν Ἰησοῦν νυκ-
τός (19, 39). Nun muſste aber doch auch ein Repräsen-
tant dieser Klasse von Anhängern Jesu auf dem nächtli-
chen Schauplaz wirklich auftreten; es konnte Joseph von
Arimathäa gewählt werden, der in der synoptischen Tra-
dition lebte: allein theils war sein Bild bereits abgeschlos-
sen, theils lag es ja im Interesse der Sage, mehr als Ei-
nen vornehmen Freund Jesu namhaft zu machen, und es
bildete sich daher eine neue Figur, deren griechischer
Name Νικόδημος schon den Repräsentanten der volkbeherr-
schenden Klasse anzudeuten scheint 4). Warum nun die-
se Fortbildung der Sage nur im vierten Evangelium sich
zeigt, dieſs erklärt sich theils aus der, auch nach der ge-
wöhnlichen Annahme, späteren Zeit seines Ursprungs,
theils daraus, daſs in dem augenscheinlich gebildeteren
Kreise, in welchem es entstand, die Beschränkung des

4) Man denke nur an die verwandten Namen Nikolaus und Nikolaiten.
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[634/0658] Zweiter Abschnitt. sie auch, so lange sie wirklich nur aus Leuten aus dem Volke bestand, sich durch die Reflexion auf Aussprüche Jesu beruhigte, in welchen er die πτωχοὺς und νηπίους se- lieg gepriesen hatte: so konnten doch, sobald Männer von Stand und Bildung zu derselben übergetreten waren, die- se nicht anders denken, als daſs ihresgleichen auch schon zu Jesu Lebzeiten ihm angehangen haben müssen. Aber es war doch von solchen sonst nichts bekannt, muſste man sich einwenden. Natürlich, antwortete man, da die Furcht vor ihren Standesgenossen sie bewogen haben wird, ihr Verhältniſs zu Jesu geheim zu halten; womit dann für beliebig viele Vornehme, welche geheime Anhänger Jesu gewesen sein sollten (Joh. 12, 42 f.), Thür und Thor geöffnet war. Doch, muſste man weiter fragen, wie konn- ten sie denn unbemerkt mit Jesu zusammenkommen? Un- ter dem Schleier der Nacht, antwortete man, und hiemit war die Scene für die Zusammenkünfte solcher Männer mit Jesu gegeben, sie waren ἐλϑόντες πρὸς τὸν Ἰησοῦν νυκ- τός (19, 39). Nun muſste aber doch auch ein Repräsen- tant dieser Klasse von Anhängern Jesu auf dem nächtli- chen Schauplaz wirklich auftreten; es konnte Joseph von Arimathäa gewählt werden, der in der synoptischen Tra- dition lebte: allein theils war sein Bild bereits abgeschlos- sen, theils lag es ja im Interesse der Sage, mehr als Ei- nen vornehmen Freund Jesu namhaft zu machen, und es bildete sich daher eine neue Figur, deren griechischer Name Νικόδημος schon den Repräsentanten der volkbeherr- schenden Klasse anzudeuten scheint 4). Warum nun die- se Fortbildung der Sage nur im vierten Evangelium sich zeigt, dieſs erklärt sich theils aus der, auch nach der ge- wöhnlichen Annahme, späteren Zeit seines Ursprungs, theils daraus, daſs in dem augenscheinlich gebildeteren Kreise, in welchem es entstand, die Beschränkung des 4) Man denke nur an die verwandten Namen Nikolaus und Nikolaiten.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 634. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/658>, abgerufen am 22.11.2024.