Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
die des von ihm behandelten Evangelisten als die genauere
vorgezogen, und neuestens hat Sieffert sehr emphatisch
versichert, gewiss habe noch Niemand daran gezweifelt,
dass die Erzählung des Lukas ein viel treueres Bild des
ganzen Vorfalls gebe, indem sie sich durch eine Fülle
specieller, anschaulicher und innerlich wahrer Züge höchst
vortheilhaft von der Erzählung des ersten (und zweiten)
Evangeliums unterscheide, welche ihrerseits durch Aus-
lassung des eigentlich ergreifenden Hauptmoments (des
Fischzugs) sich als von einem Nichtaugenzeugen herrüh-
rend charakterisire 7). Ich habe mich diesem Kritiker
schon an einem andern Orte 8) als denjenigen gestellt, der
einen solchen Zweifel wagen wolle, und ich kann auch
hier nur die Frage wiederholen: was ist -- wenn doch die
eine der beiden Erzählungen durch mündliche Überliefe-
rung entstellt sein soll -- dem Wesen der Tradition ange-
messener, das wirklich geschehene Faktum des Fischzugs
zum blossen Diktum von Menschenfischern verflüchtigt,
oder diese ursprünglich allein vorhandene bildliche Rede
zu jener Geschichte vergröbert zu haben? Die Antwort
auf diese Frage kann nicht zweifelhaft sein. Denn seit
wann wäre es doch in der Art der Sage, zu vergeistigen,
Reales, wie eine Wundergeschichte ist, in Ideales, wie
blosse Reden, zu verwandeln? da doch nach der ganzen
Natur der Bildungsstufe und der Geistesvermögen, wel-
chen sie vorzugsweise angehört, die Sage darauf ausgehen
muss, dem flüchtigen Gedanken einen soliden Leib zu
bauen, das leicht missverstehbare und schnell verhallende
Wort als allgemein verständliche und unvergessliche Be-
gebenheit zu fixiren.

Und wie leicht lässt sich erklären, wie aus der von
den zwei ersten Evangelisten aufbewahrten Gnome die

7) Über den Ursprung des ersten kan. Ev. S. 73.
8) Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1834. Nov.

Zweiter Abschnitt.
die des von ihm behandelten Evangelisten als die genauere
vorgezogen, und neuestens hat Sieffert sehr emphatisch
versichert, gewiſs habe noch Niemand daran gezweifelt,
daſs die Erzählung des Lukas ein viel treueres Bild des
ganzen Vorfalls gebe, indem sie sich durch eine Fülle
specieller, anschaulicher und innerlich wahrer Züge höchst
vortheilhaft von der Erzählung des ersten (und zweiten)
Evangeliums unterscheide, welche ihrerseits durch Aus-
lassung des eigentlich ergreifenden Hauptmoments (des
Fischzugs) sich als von einem Nichtaugenzeugen herrüh-
rend charakterisire 7). Ich habe mich diesem Kritiker
schon an einem andern Orte 8) als denjenigen gestellt, der
einen solchen Zweifel wagen wolle, und ich kann auch
hier nur die Frage wiederholen: was ist — wenn doch die
eine der beiden Erzählungen durch mündliche Überliefe-
rung entstellt sein soll — dem Wesen der Tradition ange-
messener, das wirklich geschehene Faktum des Fischzugs
zum bloſsen Diktum von Menschenfischern verflüchtigt,
oder diese ursprünglich allein vorhandene bildliche Rede
zu jener Geschichte vergröbert zu haben? Die Antwort
auf diese Frage kann nicht zweifelhaft sein. Denn seit
wann wäre es doch in der Art der Sage, zu vergeistigen,
Reales, wie eine Wundergeschichte ist, in Ideales, wie
bloſse Reden, zu verwandeln? da doch nach der ganzen
Natur der Bildungsstufe und der Geistesvermögen, wel-
chen sie vorzugsweise angehört, die Sage darauf ausgehen
muſs, dem flüchtigen Gedanken einen soliden Leib zu
bauen, das leicht miſsverstehbare und schnell verhallende
Wort als allgemein verständliche und unvergeſsliche Be-
gebenheit zu fixiren.

Und wie leicht läſst sich erklären, wie aus der von
den zwei ersten Evangelisten aufbewahrten Gnome die

7) Über den Ursprung des ersten kan. Ev. S. 73.
8) Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1834. Nov.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0562" n="538"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
die des von ihm behandelten Evangelisten als die genauere<lb/>
vorgezogen, und neuestens hat <hi rendition="#k">Sieffert</hi> sehr emphatisch<lb/>
versichert, gewi&#x017F;s habe noch Niemand daran gezweifelt,<lb/>
da&#x017F;s die Erzählung des Lukas ein viel treueres Bild des<lb/>
ganzen Vorfalls gebe, indem sie sich durch eine Fülle<lb/>
specieller, anschaulicher und innerlich wahrer Züge höchst<lb/>
vortheilhaft von der Erzählung des ersten (und zweiten)<lb/>
Evangeliums unterscheide, welche ihrerseits durch Aus-<lb/>
lassung des eigentlich ergreifenden Hauptmoments (des<lb/>
Fischzugs) sich als von einem Nichtaugenzeugen herrüh-<lb/>
rend charakterisire <note place="foot" n="7)">Über den Ursprung des ersten kan. Ev. S. 73.</note>. Ich habe mich diesem Kritiker<lb/>
schon an einem andern Orte <note place="foot" n="8)">Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1834. Nov.</note> als denjenigen gestellt, der<lb/>
einen solchen Zweifel wagen wolle, und ich kann auch<lb/>
hier nur die Frage wiederholen: was ist &#x2014; wenn doch die<lb/>
eine der beiden Erzählungen durch mündliche Überliefe-<lb/>
rung entstellt sein soll &#x2014; dem Wesen der Tradition ange-<lb/>
messener, das wirklich geschehene Faktum des Fischzugs<lb/>
zum blo&#x017F;sen Diktum von Menschenfischern verflüchtigt,<lb/>
oder diese ursprünglich allein vorhandene bildliche Rede<lb/>
zu jener Geschichte vergröbert zu haben? Die Antwort<lb/>
auf diese Frage kann nicht zweifelhaft sein. Denn seit<lb/>
wann wäre es doch in der Art der Sage, zu vergeistigen,<lb/>
Reales, wie eine Wundergeschichte ist, in Ideales, wie<lb/>
blo&#x017F;se Reden, zu verwandeln? da doch nach der ganzen<lb/>
Natur der Bildungsstufe und der Geistesvermögen, wel-<lb/>
chen sie vorzugsweise angehört, die Sage darauf ausgehen<lb/>
mu&#x017F;s, dem flüchtigen Gedanken einen soliden Leib zu<lb/>
bauen, das leicht mi&#x017F;sverstehbare und schnell verhallende<lb/>
Wort als allgemein verständliche und unverge&#x017F;sliche Be-<lb/>
gebenheit zu fixiren.</p><lb/>
            <p>Und wie leicht lä&#x017F;st sich erklären, wie aus der von<lb/>
den zwei ersten Evangelisten aufbewahrten Gnome die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[538/0562] Zweiter Abschnitt. die des von ihm behandelten Evangelisten als die genauere vorgezogen, und neuestens hat Sieffert sehr emphatisch versichert, gewiſs habe noch Niemand daran gezweifelt, daſs die Erzählung des Lukas ein viel treueres Bild des ganzen Vorfalls gebe, indem sie sich durch eine Fülle specieller, anschaulicher und innerlich wahrer Züge höchst vortheilhaft von der Erzählung des ersten (und zweiten) Evangeliums unterscheide, welche ihrerseits durch Aus- lassung des eigentlich ergreifenden Hauptmoments (des Fischzugs) sich als von einem Nichtaugenzeugen herrüh- rend charakterisire 7). Ich habe mich diesem Kritiker schon an einem andern Orte 8) als denjenigen gestellt, der einen solchen Zweifel wagen wolle, und ich kann auch hier nur die Frage wiederholen: was ist — wenn doch die eine der beiden Erzählungen durch mündliche Überliefe- rung entstellt sein soll — dem Wesen der Tradition ange- messener, das wirklich geschehene Faktum des Fischzugs zum bloſsen Diktum von Menschenfischern verflüchtigt, oder diese ursprünglich allein vorhandene bildliche Rede zu jener Geschichte vergröbert zu haben? Die Antwort auf diese Frage kann nicht zweifelhaft sein. Denn seit wann wäre es doch in der Art der Sage, zu vergeistigen, Reales, wie eine Wundergeschichte ist, in Ideales, wie bloſse Reden, zu verwandeln? da doch nach der ganzen Natur der Bildungsstufe und der Geistesvermögen, wel- chen sie vorzugsweise angehört, die Sage darauf ausgehen muſs, dem flüchtigen Gedanken einen soliden Leib zu bauen, das leicht miſsverstehbare und schnell verhallende Wort als allgemein verständliche und unvergeſsliche Be- gebenheit zu fixiren. Und wie leicht läſst sich erklären, wie aus der von den zwei ersten Evangelisten aufbewahrten Gnome die 7) Über den Ursprung des ersten kan. Ev. S. 73. 8) Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1834. Nov.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/562
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 538. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/562>, abgerufen am 18.05.2024.