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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Fünftes Kapitel. §. 67.
aber, wenn man auch das vierte Evangelium hinzunimmt,
was wäre das für ein Verhältniss, wenn Jesus diese Jün-
ger zuerst so wie Johannes erzählt, in seine Gesellschaft
gezogen haben soll; hierauf aber, nachdem sie sich aus
einer unbekannten Ursache wieder von ihm getrennt, hätte
er sie noch einmal, wie wenn nichts vorangegangen wäre,
am galiläischen See berufen, und als auch diese Einladung
noch keine bleibende Verbindung hervorbrachte, hätte er
zum drittenmal mit Hülfe eines Wunders sie zu seiner
Nachfolge aufgefordert? Ihrer ganzen Anlage nach ist
vielmehr die Erzählung bei Lukas so beschaffen, dass auch
sie ein früheres engeres Verhältniss zwischen Jesu und
seinen nachmaligen Jüngern ausschliesst. Denn wenn sie
ganz unbestimmt damit anhebt, Jesus habe zwei Schiffe
am Ufer gesehen, deren Inhaber aus denselben gestiegen
waren, um ihre Netze zu waschen, -- und erst hierauf
als der Eigenthümer des einen dieser Fahrzeuge Simon
namhaft gemacht wird: so klingt doch diess, wie Schleier-
macher
bündig gezeigt hat 6), völlig fremd, und nur wie
auf ein jezt anzuknüpfendes Verhältniss vorbereitend, nicht
ein schon bestandenes voraussetzend, so dass auch die von
Lukas vorher erzählte Heilung der Schwiegermutter des
Petrus entweder, wie so manche Heilungen Jesu, noch
ohne Anknüpfung eines engeren Verhältnisses vorüberge-
gangen, oder von Lukas (Matthäus hat sie später) zu früh
gestellt sein muss.

Es geht uns also auch mit dieser Erzählung des Lu-
kas in ihrem Verhältniss zu der des Matthäus und Markus,
wie es uns mit der johanneischen Erzählung im Verhältniss
zu der leztern gieng, dass nämlich keine von beiden weder
vor noch nach der andern sich will einreihen lassen, dass
sie somit einander ausschliessen. Fragt sich hiebei, wer
die richtige Erzählung gebe? so hat schon Schleiermacher

6) Über den Lukas, S. 70.

Fünftes Kapitel. §. 67.
aber, wenn man auch das vierte Evangelium hinzunimmt,
was wäre das für ein Verhältniſs, wenn Jesus diese Jün-
ger zuerst so wie Johannes erzählt, in seine Gesellschaft
gezogen haben soll; hierauf aber, nachdem sie sich aus
einer unbekannten Ursache wieder von ihm getrennt, hätte
er sie noch einmal, wie wenn nichts vorangegangen wäre,
am galiläischen See berufen, und als auch diese Einladung
noch keine bleibende Verbindung hervorbrachte, hätte er
zum drittenmal mit Hülfe eines Wunders sie zu seiner
Nachfolge aufgefordert? Ihrer ganzen Anlage nach ist
vielmehr die Erzählung bei Lukas so beschaffen, daſs auch
sie ein früheres engeres Verhältniſs zwischen Jesu und
seinen nachmaligen Jüngern ausschlieſst. Denn wenn sie
ganz unbestimmt damit anhebt, Jesus habe zwei Schiffe
am Ufer gesehen, deren Inhaber aus denselben gestiegen
waren, um ihre Netze zu waschen, — und erst hierauf
als der Eigenthümer des einen dieser Fahrzeuge Simon
namhaft gemacht wird: so klingt doch dieſs, wie Schleier-
macher
bündig gezeigt hat 6), völlig fremd, und nur wie
auf ein jezt anzuknüpfendes Verhältniſs vorbereitend, nicht
ein schon bestandenes voraussetzend, so daſs auch die von
Lukas vorher erzählte Heilung der Schwiegermutter des
Petrus entweder, wie so manche Heilungen Jesu, noch
ohne Anknüpfung eines engeren Verhältnisses vorüberge-
gangen, oder von Lukas (Matthäus hat sie später) zu früh
gestellt sein muſs.

Es geht uns also auch mit dieser Erzählung des Lu-
kas in ihrem Verhältniſs zu der des Matthäus und Markus,
wie es uns mit der johanneischen Erzählung im Verhältniſs
zu der leztern gieng, daſs nämlich keine von beiden weder
vor noch nach der andern sich will einreihen lassen, daſs
sie somit einander ausschlieſsen. Fragt sich hiebei, wer
die richtige Erzählung gebe? so hat schon Schleiermacher

6) Über den Lukas, S. 70.
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[537/0561] Fünftes Kapitel. §. 67. aber, wenn man auch das vierte Evangelium hinzunimmt, was wäre das für ein Verhältniſs, wenn Jesus diese Jün- ger zuerst so wie Johannes erzählt, in seine Gesellschaft gezogen haben soll; hierauf aber, nachdem sie sich aus einer unbekannten Ursache wieder von ihm getrennt, hätte er sie noch einmal, wie wenn nichts vorangegangen wäre, am galiläischen See berufen, und als auch diese Einladung noch keine bleibende Verbindung hervorbrachte, hätte er zum drittenmal mit Hülfe eines Wunders sie zu seiner Nachfolge aufgefordert? Ihrer ganzen Anlage nach ist vielmehr die Erzählung bei Lukas so beschaffen, daſs auch sie ein früheres engeres Verhältniſs zwischen Jesu und seinen nachmaligen Jüngern ausschlieſst. Denn wenn sie ganz unbestimmt damit anhebt, Jesus habe zwei Schiffe am Ufer gesehen, deren Inhaber aus denselben gestiegen waren, um ihre Netze zu waschen, — und erst hierauf als der Eigenthümer des einen dieser Fahrzeuge Simon namhaft gemacht wird: so klingt doch dieſs, wie Schleier- macher bündig gezeigt hat 6), völlig fremd, und nur wie auf ein jezt anzuknüpfendes Verhältniſs vorbereitend, nicht ein schon bestandenes voraussetzend, so daſs auch die von Lukas vorher erzählte Heilung der Schwiegermutter des Petrus entweder, wie so manche Heilungen Jesu, noch ohne Anknüpfung eines engeren Verhältnisses vorüberge- gangen, oder von Lukas (Matthäus hat sie später) zu früh gestellt sein muſs. Es geht uns also auch mit dieser Erzählung des Lu- kas in ihrem Verhältniſs zu der des Matthäus und Markus, wie es uns mit der johanneischen Erzählung im Verhältniſs zu der leztern gieng, daſs nämlich keine von beiden weder vor noch nach der andern sich will einreihen lassen, daſs sie somit einander ausschlieſsen. Fragt sich hiebei, wer die richtige Erzählung gebe? so hat schon Schleiermacher 6) Über den Lukas, S. 70.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/561>, abgerufen am 18.05.2024.