das negative Kriterium anzugeben, wenn einerseits die Er- zählung so wunderbar klinge, dass die Begebenheit sich unmöglich so habe zutragen können, andererseits aber doch kein Zweck erkennbar sei, einen bestimmten Gedan- ken zu versinnlichen: so sei zu vermuthen, dass die ganze Erzählung der Phantasie eines Dichters ihren Ursprung zu danken habe. In Bezug auf sämmtliche Mythen macht besonders die Schelling'sche Abhandlung auf das Kunstlose und Unbefangene in ihrer Entstehung aufmerksam, indem sie theils von den historischen Mythen bemerkt, dass das Ungeschichtliche in denselben nicht künstliches Produkt absichtlicher Erdichtung sei, sondern sich im Laufe der Zeit und Überlieferung von selbst eingeschlichen habe; theils in Bezug auf die philosophischen erinnert, dass nicht allein zum Behuf eines sinnlichen Volks, sondern auch zu ihrem eigenen Behufe die ältesten Weisen das Gewand der Geschichte für ihre Ideen gewählt haben, um in Er- mangelung abstrakter Begriffe und Ausdrücke das Dunkle ihrer Vorstellung durch eine sinnliche Darstellung auf- zuhellen.
Da dem früher Bemerkten zufolge die natürliche Deu- tung namentlich der A. T.lichen Geschichte nur so lange sich halten konnte, als die Urkunden derselben für ganz oder nahezu gleichzeitig mit den Begebenheiten galten: so sind die Männer, welche die leztere Meinung umgestossen haben, Vater und de Wette, zugleich diejenigen gewesen, durch welche die mythische Ansicht jener Geschichte fest be- gründet worden ist. So wird nach der Bemerkung des Ersteren 6) der eigenthümliche Charakter der Nachrichten im Pentateuch erst dann begreiflich, wenn man annimmt, dass dieselben nicht von Augenzeugen herrühren, son- dern durch die Hand der Tradition hindurchgegangen
6) s. die Abhandlung über Moses und die Verfasser des Pen- tateuchs im 3ten Bande des Comm. über den Pent. S. 660.
Einleitung. §. 8.
das negative Kriterium anzugeben, wenn einerseits die Er- zählung so wunderbar klinge, daſs die Begebenheit sich unmöglich so habe zutragen können, andererseits aber doch kein Zweck erkennbar sei, einen bestimmten Gedan- ken zu versinnlichen: so sei zu vermuthen, daſs die ganze Erzählung der Phantasie eines Dichters ihren Ursprung zu danken habe. In Bezug auf sämmtliche Mythen macht besonders die Schelling'sche Abhandlung auf das Kunstlose und Unbefangene in ihrer Entstehung aufmerksam, indem sie theils von den historischen Mythen bemerkt, daſs das Ungeschichtliche in denselben nicht künstliches Produkt absichtlicher Erdichtung sei, sondern sich im Laufe der Zeit und Überlieferung von selbst eingeschlichen habe; theils in Bezug auf die philosophischen erinnert, daſs nicht allein zum Behuf eines sinnlichen Volks, sondern auch zu ihrem eigenen Behufe die ältesten Weisen das Gewand der Geschichte für ihre Ideen gewählt haben, um in Er- mangelung abstrakter Begriffe und Ausdrücke das Dunkle ihrer Vorstellung durch eine sinnliche Darstellung auf- zuhellen.
Da dem früher Bemerkten zufolge die natürliche Deu- tung namentlich der A. T.lichen Geschichte nur so lange sich halten konnte, als die Urkunden derselben für ganz oder nahezu gleichzeitig mit den Begebenheiten galten: so sind die Männer, welche die leztere Meinung umgestoſsen haben, Vater und de Wette, zugleich diejenigen gewesen, durch welche die mythische Ansicht jener Geschichte fest be- gründet worden ist. So wird nach der Bemerkung des Ersteren 6) der eigenthümliche Charakter der Nachrichten im Pentateuch erst dann begreiflich, wenn man annimmt, daſs dieselben nicht von Augenzeugen herrühren, son- dern durch die Hand der Tradition hindurchgegangen
6) s. die Abhandlung über Moses und die Verfasser des Pen- tateuchs im 3ten Bande des Comm. über den Pent. S. 660.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0055"n="31"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Einleitung</hi>. §. 8.</fw><lb/>
das negative Kriterium anzugeben, wenn einerseits die Er-<lb/>
zählung so wunderbar klinge, daſs die Begebenheit sich<lb/>
unmöglich so habe zutragen können, andererseits aber<lb/>
doch kein Zweck erkennbar sei, einen bestimmten Gedan-<lb/>
ken zu versinnlichen: so sei zu vermuthen, daſs die ganze<lb/>
Erzählung der Phantasie eines Dichters ihren Ursprung<lb/>
zu danken habe. In Bezug auf sämmtliche Mythen macht<lb/>
besonders die <hirendition="#k">Schelling</hi>'sche Abhandlung auf das Kunstlose<lb/>
und Unbefangene in ihrer Entstehung aufmerksam, indem<lb/>
sie theils von den historischen Mythen bemerkt, daſs das<lb/>
Ungeschichtliche in denselben nicht künstliches Produkt<lb/>
absichtlicher Erdichtung sei, sondern sich im Laufe der<lb/>
Zeit und Überlieferung von selbst eingeschlichen habe;<lb/>
theils in Bezug auf die philosophischen erinnert, daſs nicht<lb/>
allein zum Behuf eines sinnlichen Volks, sondern auch zu<lb/>
ihrem eigenen Behufe die ältesten Weisen das Gewand<lb/>
der Geschichte für ihre Ideen gewählt haben, um in Er-<lb/>
mangelung abstrakter Begriffe und Ausdrücke das Dunkle<lb/>
ihrer Vorstellung durch eine sinnliche Darstellung auf-<lb/>
zuhellen.</p><lb/><p>Da dem früher Bemerkten zufolge die natürliche Deu-<lb/>
tung namentlich der A. T.lichen Geschichte nur so lange sich<lb/>
halten konnte, als die Urkunden derselben für ganz oder<lb/>
nahezu gleichzeitig mit den Begebenheiten galten: so sind<lb/>
die Männer, welche die leztere Meinung umgestoſsen haben,<lb/><hirendition="#k">Vater</hi> und <hirendition="#k">de Wette</hi>, zugleich diejenigen gewesen, durch<lb/>
welche die mythische Ansicht jener Geschichte fest be-<lb/>
gründet worden ist. So wird nach der Bemerkung des<lb/>
Ersteren <noteplace="foot"n="6)">s. die Abhandlung über Moses und die Verfasser des Pen-<lb/>
tateuchs im 3ten Bande des Comm. über den Pent. S. 660.</note> der eigenthümliche Charakter der Nachrichten<lb/>
im Pentateuch erst dann begreiflich, wenn man annimmt,<lb/>
daſs dieselben nicht von Augenzeugen herrühren, son-<lb/>
dern durch die Hand der Tradition hindurchgegangen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[31/0055]
Einleitung. §. 8.
das negative Kriterium anzugeben, wenn einerseits die Er-
zählung so wunderbar klinge, daſs die Begebenheit sich
unmöglich so habe zutragen können, andererseits aber
doch kein Zweck erkennbar sei, einen bestimmten Gedan-
ken zu versinnlichen: so sei zu vermuthen, daſs die ganze
Erzählung der Phantasie eines Dichters ihren Ursprung
zu danken habe. In Bezug auf sämmtliche Mythen macht
besonders die Schelling'sche Abhandlung auf das Kunstlose
und Unbefangene in ihrer Entstehung aufmerksam, indem
sie theils von den historischen Mythen bemerkt, daſs das
Ungeschichtliche in denselben nicht künstliches Produkt
absichtlicher Erdichtung sei, sondern sich im Laufe der
Zeit und Überlieferung von selbst eingeschlichen habe;
theils in Bezug auf die philosophischen erinnert, daſs nicht
allein zum Behuf eines sinnlichen Volks, sondern auch zu
ihrem eigenen Behufe die ältesten Weisen das Gewand
der Geschichte für ihre Ideen gewählt haben, um in Er-
mangelung abstrakter Begriffe und Ausdrücke das Dunkle
ihrer Vorstellung durch eine sinnliche Darstellung auf-
zuhellen.
Da dem früher Bemerkten zufolge die natürliche Deu-
tung namentlich der A. T.lichen Geschichte nur so lange sich
halten konnte, als die Urkunden derselben für ganz oder
nahezu gleichzeitig mit den Begebenheiten galten: so sind
die Männer, welche die leztere Meinung umgestoſsen haben,
Vater und de Wette, zugleich diejenigen gewesen, durch
welche die mythische Ansicht jener Geschichte fest be-
gründet worden ist. So wird nach der Bemerkung des
Ersteren 6) der eigenthümliche Charakter der Nachrichten
im Pentateuch erst dann begreiflich, wenn man annimmt,
daſs dieselben nicht von Augenzeugen herrühren, son-
dern durch die Hand der Tradition hindurchgegangen
6) s. die Abhandlung über Moses und die Verfasser des Pen-
tateuchs im 3ten Bande des Comm. über den Pent. S. 660.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/55>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.