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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Einleitung. §. 8.
cher Begebenheiten, nur gefärbt durch die alterthümliche,
Göttliches mit Menschlichem, Natürliches mit Übernatürli-
chem vermengende Denkart; es gebe aber auch philoso-
phische
Mythen, oder solche, welche einen blossen Ge-
danken, eine Speculation oder Zeitidee, in Geschichte ein-
kleiden; überdiess aber können beide Arten theils sich
mischen, theils durch dichterische Überarbeitung zu poeti-
schen
Mythen werden, bei welchen hinter der phan-
tasiereichen Einkleidung so ursprüngliches Faktum wie
Idee beinahe verschwinden. Zwischen diesen verschiede-
nen Arten von Mythen ist die Unterscheidung desswegen
schwierig, weil auch diejenigen, welchen bloses Raisonne-
ment zu Grunde liegt, mit gleichem historischem Anspruch,
wie die auf geschichtlichem Grunde ruhenden, auftreten;
doch geben die genannten Gelehrten auch für diese Unter-
scheidung einige Regeln an. Vor Allem müsse man darauf
sehen, ob und was für ein Zweck der Erzählung sich
entdecken lasse. Wo gar kein Zweck sichtbar sei, um
dessen willen die Sage erdichtet sein könnte: da werde
Jedermann den historischen Mythus finden. Entsprechen
aber alle Hauptumstände einer Erzählung der Versinnli-
chung einer bestimmten Wahrheit: so sei der Zweck der
Erzählung sicher nur eben dieser, und der Mythus somit
ein philosophischer. Die Mischung des historischen und
philosophischen Mythus sei daran kenntlich, wenn sich
die Tendenz zeige, gewisse Thatsachen aus ihren Ursachen
abzuleiten. Dass Geschichtliches zum Grunde liege, lasse
sich bisweilen auch durch anderweitige Nachrichten erwei-
sen, bisweilen stehen gewisse Angaben eines Mythus mit
einer bekannten wahren Geschichte in genauer Verbindung,
oder trage er in sich selbst unverkennbare Spuren der
Wahrscheinlichkeit, so dass der Kritiker zwar die Einklei-
dung verwerfen, doch aber die Grundlage für geschichtlich
halten könne. Am schwersten fiel es, den sogenannten
poetischen Mythus zu unterscheiden, und Bauer weiss nur

Einleitung. §. 8.
cher Begebenheiten, nur gefärbt durch die alterthümliche,
Göttliches mit Menschlichem, Natürliches mit Übernatürli-
chem vermengende Denkart; es gebe aber auch philoso-
phische
Mythen, oder solche, welche einen bloſsen Ge-
danken, eine Speculation oder Zeitidee, in Geschichte ein-
kleiden; überdieſs aber können beide Arten theils sich
mischen, theils durch dichterische Überarbeitung zu poëti-
schen
Mythen werden, bei welchen hinter der phan-
tasiereichen Einkleidung so ursprüngliches Faktum wie
Idee beinahe verschwinden. Zwischen diesen verschiede-
nen Arten von Mythen ist die Unterscheidung deſswegen
schwierig, weil auch diejenigen, welchen bloses Raisonne-
ment zu Grunde liegt, mit gleichem historischem Anspruch,
wie die auf geschichtlichem Grunde ruhenden, auftreten;
doch geben die genannten Gelehrten auch für diese Unter-
scheidung einige Regeln an. Vor Allem müsse man darauf
sehen, ob und was für ein Zweck der Erzählung sich
entdecken lasse. Wo gar kein Zweck sichtbar sei, um
dessen willen die Sage erdichtet sein könnte: da werde
Jedermann den historischen Mythus finden. Entsprechen
aber alle Hauptumstände einer Erzählung der Versinnli-
chung einer bestimmten Wahrheit: so sei der Zweck der
Erzählung sicher nur eben dieser, und der Mythus somit
ein philosophischer. Die Mischung des historischen und
philosophischen Mythus sei daran kenntlich, wenn sich
die Tendenz zeige, gewisse Thatsachen aus ihren Ursachen
abzuleiten. Daſs Geschichtliches zum Grunde liege, lasse
sich bisweilen auch durch anderweitige Nachrichten erwei-
sen, bisweilen stehen gewisse Angaben eines Mythus mit
einer bekannten wahren Geschichte in genauer Verbindung,
oder trage er in sich selbst unverkennbare Spuren der
Wahrscheinlichkeit, so daſs der Kritiker zwar die Einklei-
dung verwerfen, doch aber die Grundlage für geschichtlich
halten könne. Am schwersten fiel es, den sogenannten
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[30/0054] Einleitung. §. 8. cher Begebenheiten, nur gefärbt durch die alterthümliche, Göttliches mit Menschlichem, Natürliches mit Übernatürli- chem vermengende Denkart; es gebe aber auch philoso- phische Mythen, oder solche, welche einen bloſsen Ge- danken, eine Speculation oder Zeitidee, in Geschichte ein- kleiden; überdieſs aber können beide Arten theils sich mischen, theils durch dichterische Überarbeitung zu poëti- schen Mythen werden, bei welchen hinter der phan- tasiereichen Einkleidung so ursprüngliches Faktum wie Idee beinahe verschwinden. Zwischen diesen verschiede- nen Arten von Mythen ist die Unterscheidung deſswegen schwierig, weil auch diejenigen, welchen bloses Raisonne- ment zu Grunde liegt, mit gleichem historischem Anspruch, wie die auf geschichtlichem Grunde ruhenden, auftreten; doch geben die genannten Gelehrten auch für diese Unter- scheidung einige Regeln an. Vor Allem müsse man darauf sehen, ob und was für ein Zweck der Erzählung sich entdecken lasse. Wo gar kein Zweck sichtbar sei, um dessen willen die Sage erdichtet sein könnte: da werde Jedermann den historischen Mythus finden. Entsprechen aber alle Hauptumstände einer Erzählung der Versinnli- chung einer bestimmten Wahrheit: so sei der Zweck der Erzählung sicher nur eben dieser, und der Mythus somit ein philosophischer. Die Mischung des historischen und philosophischen Mythus sei daran kenntlich, wenn sich die Tendenz zeige, gewisse Thatsachen aus ihren Ursachen abzuleiten. Daſs Geschichtliches zum Grunde liege, lasse sich bisweilen auch durch anderweitige Nachrichten erwei- sen, bisweilen stehen gewisse Angaben eines Mythus mit einer bekannten wahren Geschichte in genauer Verbindung, oder trage er in sich selbst unverkennbare Spuren der Wahrscheinlichkeit, so daſs der Kritiker zwar die Einklei- dung verwerfen, doch aber die Grundlage für geschichtlich halten könne. Am schwersten fiel es, den sogenannten poëtischen Mythus zu unterscheiden, und Bauer weiſs nur

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/54>, abgerufen am 24.11.2024.