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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
Bezug auf das vierte Evangelium Wunder nehmen, dass
hier Jesus den theokratischen Sinn des Ausdrucks ganz
ignorirt, und den metaphysischen, in welchem er denselben
in diesem Evangelium gebraucht, nur aus jenem vagen me-
taphorischen heraus zu rechtfertigen weiss. Wenn er näm-
lich Joh. 10, 34 ff. für die Befugniss, sich uios tou theou zu
nennen, auf die Benennung theoi, welche im A. T. (Ps. 82, 6.)
auch andern Menschen, wie Fürsten und Obrigkeiten, ge-
geben werde, sich beruft: so fällt es auf, wie Jesus zu
diesem so ferne liegenden und prekären Argumente greifen
konnte, während ihm das schlagende so nahe lag: da im
A. T. die theokratischen Könige, oder, nach der damals
üblichen Deutung der betreffenden Stellen, der Messias,
als Sohn Jehova's bezeichnet sei: so habe somit er, der
sich ja V. 25. für den Messias erklärt hatte, vollkomme-
nes Recht, diese Benennung sich zu vindiciren.

Was die Ansichten Anderer über Jesus als Gottessohn
betrifft, so kommt in den Anreden wohlgesinnter Personen
an ihn zwar auch im vierten Evangelium das uios tou the[ou],
wie schon bemerkt, einigemale in Verbindungen vor, welche
es als blosse Epexegese des Khrisos erscheinen lassen: aber die
mit Jesu streitenden Ioudaioi dieses Evangeliums ignoriren
in ihren Angriffen diese Bedeutung des Ausdrucks ebenso,
wie dort Jesus in seiner Vertheidigung, und scheinen blos
von der metaphysischen Notiz zu nehmen. Zwar auch bei
den Synoptikern ruft der Hohepriester, als Jesus seine
Frage, ob er Christus, der Sohn Gottes sei, bejaht und auf
sein Kommen in den Wolken hingewiesen hatte (Matth.
26, 65. parall.) ein eblasphemese aus; aber diess bezieht sich
nur auf die nach seiner Ansicht unbefugte Anmassung der
theokratischen Würde des Messias. Dagegen im vierten
Evangelium wollen die Juden Jesum, wie er sich als Sohn
Gottes darstellt (Joh. 5, 17 f. 10, 30 ff.), tödten, aus dem
ausdrücklich angegebenen Grunde, weil er sich dadurch
ison to theo, ja sogar eauton theon mache. Während den

Zweiter Abschnitt.
Bezug auf das vierte Evangelium Wunder nehmen, daſs
hier Jesus den theokratischen Sinn des Ausdrucks ganz
ignorirt, und den metaphysischen, in welchem er denselben
in diesem Evangelium gebraucht, nur aus jenem vagen me-
taphorischen heraus zu rechtfertigen weiſs. Wenn er näm-
lich Joh. 10, 34 ff. für die Befugniſs, sich υἱὸς τοῦ ϑεοῦ zu
nennen, auf die Benennung ϑεοὶ, welche im A. T. (Ps. 82, 6.)
auch andern Menschen, wie Fürsten und Obrigkeiten, ge-
geben werde, sich beruft: so fällt es auf, wie Jesus zu
diesem so ferne liegenden und prekären Argumente greifen
konnte, während ihm das schlagende so nahe lag: da im
A. T. die theokratischen Könige, oder, nach der damals
üblichen Deutung der betreffenden Stellen, der Messias,
als Sohn Jehova's bezeichnet sei: so habe somit er, der
sich ja V. 25. für den Messias erklärt hatte, vollkomme-
nes Recht, diese Benennung sich zu vindiciren.

Was die Ansichten Anderer über Jesus als Gottessohn
betrifft, so kommt in den Anreden wohlgesinnter Personen
an ihn zwar auch im vierten Evangelium das υἱὸς τοῦ ϑε[οῦ],
wie schon bemerkt, einigemale in Verbindungen vor, welche
es als bloſse Epexegese des Χριςὸς erscheinen lassen: aber die
mit Jesu streitenden Ἰουδαῖοι dieses Evangeliums ignoriren
in ihren Angriffen diese Bedeutung des Ausdrucks ebenso,
wie dort Jesus in seiner Vertheidigung, und scheinen blos
von der metaphysischen Notiz zu nehmen. Zwar auch bei
den Synoptikern ruft der Hohepriester, als Jesus seine
Frage, ob er Christus, der Sohn Gottes sei, bejaht und auf
sein Kommen in den Wolken hingewiesen hatte (Matth.
26, 65. parall.) ein ἐβλασφήμησε aus; aber dieſs bezieht sich
nur auf die nach seiner Ansicht unbefugte Anmaſsung der
theokratischen Würde des Messias. Dagegen im vierten
Evangelium wollen die Juden Jesum, wie er sich als Sohn
Gottes darstellt (Joh. 5, 17 f. 10, 30 ff.), tödten, aus dem
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[480/0504] Zweiter Abschnitt. Bezug auf das vierte Evangelium Wunder nehmen, daſs hier Jesus den theokratischen Sinn des Ausdrucks ganz ignorirt, und den metaphysischen, in welchem er denselben in diesem Evangelium gebraucht, nur aus jenem vagen me- taphorischen heraus zu rechtfertigen weiſs. Wenn er näm- lich Joh. 10, 34 ff. für die Befugniſs, sich υἱὸς τοῦ ϑεοῦ zu nennen, auf die Benennung ϑεοὶ, welche im A. T. (Ps. 82, 6.) auch andern Menschen, wie Fürsten und Obrigkeiten, ge- geben werde, sich beruft: so fällt es auf, wie Jesus zu diesem so ferne liegenden und prekären Argumente greifen konnte, während ihm das schlagende so nahe lag: da im A. T. die theokratischen Könige, oder, nach der damals üblichen Deutung der betreffenden Stellen, der Messias, als Sohn Jehova's bezeichnet sei: so habe somit er, der sich ja V. 25. für den Messias erklärt hatte, vollkomme- nes Recht, diese Benennung sich zu vindiciren. Was die Ansichten Anderer über Jesus als Gottessohn betrifft, so kommt in den Anreden wohlgesinnter Personen an ihn zwar auch im vierten Evangelium das υἱὸς τοῦ ϑεοῦ, wie schon bemerkt, einigemale in Verbindungen vor, welche es als bloſse Epexegese des Χριςὸς erscheinen lassen: aber die mit Jesu streitenden Ἰουδαῖοι dieses Evangeliums ignoriren in ihren Angriffen diese Bedeutung des Ausdrucks ebenso, wie dort Jesus in seiner Vertheidigung, und scheinen blos von der metaphysischen Notiz zu nehmen. Zwar auch bei den Synoptikern ruft der Hohepriester, als Jesus seine Frage, ob er Christus, der Sohn Gottes sei, bejaht und auf sein Kommen in den Wolken hingewiesen hatte (Matth. 26, 65. parall.) ein ἐβλασφήμησε aus; aber dieſs bezieht sich nur auf die nach seiner Ansicht unbefugte Anmaſsung der theokratischen Würde des Messias. Dagegen im vierten Evangelium wollen die Juden Jesum, wie er sich als Sohn Gottes darstellt (Joh. 5, 17 f. 10, 30 ff.), tödten, aus dem ausdrücklich angegebenen Grunde, weil er sich dadurch ἴσον τῷ ϑεῷ, ja sogar ἑαυτὸν ϑεὸν mache. Während den

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/504>, abgerufen am 22.11.2024.