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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Viertes Kapitel. §. 59.

Wiefern diess 1), das kann schon aus dem erhellen,
was bereits gelegentlich bemerkt werden musste, dass Hos.
11, 1. 2 Mos. 4, 22. das Volk Israel, und ebenso 2 Sam. 7,
14. Ps. 2, 7. (vgl. 89, 28.) der König dieses Volkes als Sohn
und Erstgeborener Gottes bezeichnet werde. Sohn Gottes
wurde der König (wie das Volk) der Israeliten nach der
Stelle aus 2. Sam. in Beziehung auf das besondre und un-
mittelbare Erziehungs- und Liebesverhältniss genannt, in
welches Jehova zu demselben treten wollte; wozu nach der
Stelle aus dem zweiten Psalm noch der weitere Grund
kommt, dass, wie menschliche Könige einen Sohn zum Mit-
oder Unterregenten anzunehmen pflegen, so der israeliti-
sche König von Jehova dem höchsten Herrscher mit der
Verwaltung seiner Lieblingsprovinz beauftragt ist. Dass
diese, ursprünglich auf jeden im Sinne der Theokratie re-
gierenden israelitischen König anwendbare Bezeichnung
mit der Entfaltung des Begriffs eines Messias vorzugsweise
auf diesen, als den geliebtesten Sohn und gewaltigsten
Statthalter Gottes auf Erden bezogen werden musste, er-
hellt von selbst.

Ist also diess die ursprüngliche, historische Bedeutung
des Ausdrucks o uios tou theou, so fragt sich: kann ihn auch
Jesus nur in dieser, oder auch in einer der drei zuerst an-
geführten Bedeutungen von sich gebraucht haben? Zuerst
in dem engsten physischen Sinn wird er Jesu gar nicht
in den Mund gelegt, sondern dem verkündigenden Engel
Luc. 1, 35., was der Evangelist zu verantworten hat. In
dem mittleren, metaphysischen Sinne, in welchem er We-
senseinheit und Lebensgemeinschaft mit Gott bedeutet, könn-
te Jesus selbst den Ausdruck gar wohl genommen haben,
indem er den seinen Volksgenossen geläufigen theokrati-
schen Sinn desselben für sich umbildete: doch muss es in

1) Vrgl. über das Folgende die treffliche Ausführung von Pau-
lus
, in der Einleitung zum Leben Jesu, 1, a, S. 28 ff.
Viertes Kapitel. §. 59.

Wiefern dieſs 1), das kann schon aus dem erhellen,
was bereits gelegentlich bemerkt werden muſste, daſs Hos.
11, 1. 2 Mos. 4, 22. das Volk Israël, und ebenso 2 Sam. 7,
14. Ps. 2, 7. (vgl. 89, 28.) der König dieses Volkes als Sohn
und Erstgeborener Gottes bezeichnet werde. Sohn Gottes
wurde der König (wie das Volk) der Israëliten nach der
Stelle aus 2. Sam. in Beziehung auf das besondre und un-
mittelbare Erziehungs- und Liebesverhältniſs genannt, in
welches Jehova zu demselben treten wollte; wozu nach der
Stelle aus dem zweiten Psalm noch der weitere Grund
kommt, daſs, wie menschliche Könige einen Sohn zum Mit-
oder Unterregenten anzunehmen pflegen, so der israëliti-
sche König von Jehova dem höchsten Herrscher mit der
Verwaltung seiner Lieblingsprovinz beauftragt ist. Daſs
diese, ursprünglich auf jeden im Sinne der Theokratie re-
gierenden israëlitischen König anwendbare Bezeichnung
mit der Entfaltung des Begriffs eines Messias vorzugsweise
auf diesen, als den geliebtesten Sohn und gewaltigsten
Statthalter Gottes auf Erden bezogen werden muſste, er-
hellt von selbst.

Ist also dieſs die ursprüngliche, historische Bedeutung
des Ausdrucks ὁ υἱὸς τοῦ ϑεοῦ, so fragt sich: kann ihn auch
Jesus nur in dieser, oder auch in einer der drei zuerst an-
geführten Bedeutungen von sich gebraucht haben? Zuerst
in dem engsten physischen Sinn wird er Jesu gar nicht
in den Mund gelegt, sondern dem verkündigenden Engel
Luc. 1, 35., was der Evangelist zu verantworten hat. In
dem mittleren, metaphysischen Sinne, in welchem er We-
senseinheit und Lebensgemeinschaft mit Gott bedeutet, könn-
te Jesus selbst den Ausdruck gar wohl genommen haben,
indem er den seinen Volksgenossen geläufigen theokrati-
schen Sinn desselben für sich umbildete: doch muſs es in

1) Vrgl. über das Folgende die treffliche Ausführung von Pau-
lus
, in der Einleitung zum Leben Jesu, 1, a, S. 28 ff.
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[479/0503] Viertes Kapitel. §. 59. Wiefern dieſs 1), das kann schon aus dem erhellen, was bereits gelegentlich bemerkt werden muſste, daſs Hos. 11, 1. 2 Mos. 4, 22. das Volk Israël, und ebenso 2 Sam. 7, 14. Ps. 2, 7. (vgl. 89, 28.) der König dieses Volkes als Sohn und Erstgeborener Gottes bezeichnet werde. Sohn Gottes wurde der König (wie das Volk) der Israëliten nach der Stelle aus 2. Sam. in Beziehung auf das besondre und un- mittelbare Erziehungs- und Liebesverhältniſs genannt, in welches Jehova zu demselben treten wollte; wozu nach der Stelle aus dem zweiten Psalm noch der weitere Grund kommt, daſs, wie menschliche Könige einen Sohn zum Mit- oder Unterregenten anzunehmen pflegen, so der israëliti- sche König von Jehova dem höchsten Herrscher mit der Verwaltung seiner Lieblingsprovinz beauftragt ist. Daſs diese, ursprünglich auf jeden im Sinne der Theokratie re- gierenden israëlitischen König anwendbare Bezeichnung mit der Entfaltung des Begriffs eines Messias vorzugsweise auf diesen, als den geliebtesten Sohn und gewaltigsten Statthalter Gottes auf Erden bezogen werden muſste, er- hellt von selbst. Ist also dieſs die ursprüngliche, historische Bedeutung des Ausdrucks ὁ υἱὸς τοῦ ϑεοῦ, so fragt sich: kann ihn auch Jesus nur in dieser, oder auch in einer der drei zuerst an- geführten Bedeutungen von sich gebraucht haben? Zuerst in dem engsten physischen Sinn wird er Jesu gar nicht in den Mund gelegt, sondern dem verkündigenden Engel Luc. 1, 35., was der Evangelist zu verantworten hat. In dem mittleren, metaphysischen Sinne, in welchem er We- senseinheit und Lebensgemeinschaft mit Gott bedeutet, könn- te Jesus selbst den Ausdruck gar wohl genommen haben, indem er den seinen Volksgenossen geläufigen theokrati- schen Sinn desselben für sich umbildete: doch muſs es in 1) Vrgl. über das Folgende die treffliche Ausführung von Pau- lus, in der Einleitung zum Leben Jesu, 1, a, S. 28 ff.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/503>, abgerufen am 16.06.2024.