Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Viertes Kapitel. §. 57.
einen blossen Nebenzug, wie hier. die Vergleichung mit ei-
nem Menschensohn, zur stehenden Bezeichnung einer Per-
son oder Sache zu machen 9). Musste so der Ausdruck
o uios tou anthropou nothwendig an die auf den Messias be-
zogene Stelle des Daniel erinnern: so konnte Jesus den-
selben unmöglich so oft, und zwar in Verbindungen, wel-
che auf den Messias deuteten, gebrauchen, ohne diesen
dadurch bezeichnen zu wollen.

Weit eher, als die Annahme, er habe mit dem be-
sprochenen Ausdruck sich selbst ohne Bezug auf die mes-
sianische Würde gemeint, liesse sich vielleicht die umge-
kehrte Vermuthung begründen, er möchte wohl öfters,
wenn er vom uios tou anthropou sprach, den Messias, aber
ohne Bezug auf seine Person, gemeint haben. Wenn er
Matth. 10, 23. bei der ersten Aussendung der Zwölfe zur
Verkündigung des Gottesreichs diese über die ihnen bevor-
stehenden Verfolgungen durch die schon angeführte Ver-
sicherung beruhigt, sie werden nicht in allen israelitischen
Städten herumgekommen sein, eos an [el]th[e] o uios tou an-
thropou: so würde man, diesen Ausspruch für sich genom-
men, um so eher an eine dritte Person denken, deren bal-
dige messianische Ankunft Jesus verspreche, als er selber,
der Redende, ja bereits gekommen war, und man vorläu-
fig nicht sieht, wie er sein Kommen als ein erst bevorste-
hendes darstellen könne. Ebenso, wenn Jesus Matth. 13,
37 ff. den spe[i]ron der Parabel als den uios tou anthropou
deutet, welcher am Ende der Tage Ernte und Gericht hal-
ten werde: so könnte er an und für sich auch hier auf

9) Man denke nur an die Bezeichnung jener Davidischen Elegie
2 Sam. 1, 17 ff. durch qeshet, und an die Benennung des Mes-
sias als tsemakh. Hätte Schleiermacher diese jüdische Bezeich-
nungsweise beachten mögen, so hätte er nicht die Beziehung
des uios tou a. auf die Danielische Stelle einen sonderbaren
Einfall nennen können (Glaubensl. §. 99. S. 99. Anm.)
30*

Viertes Kapitel. §. 57.
einen bloſsen Nebenzug, wie hier. die Vergleichung mit ei-
nem Menschensohn, zur stehenden Bezeichnung einer Per-
son oder Sache zu machen 9). Muſste so der Ausdruck
ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου nothwendig an die auf den Messias be-
zogene Stelle des Daniel erinnern: so konnte Jesus den-
selben unmöglich so oft, und zwar in Verbindungen, wel-
che auf den Messias deuteten, gebrauchen, ohne diesen
dadurch bezeichnen zu wollen.

Weit eher, als die Annahme, er habe mit dem be-
sprochenen Ausdruck sich selbst ohne Bezug auf die mes-
sianische Würde gemeint, lieſse sich vielleicht die umge-
kehrte Vermuthung begründen, er möchte wohl öfters,
wenn er vom υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου sprach, den Messias, aber
ohne Bezug auf seine Person, gemeint haben. Wenn er
Matth. 10, 23. bei der ersten Aussendung der Zwölfe zur
Verkündigung des Gottesreichs diese über die ihnen bevor-
stehenden Verfolgungen durch die schon angeführte Ver-
sicherung beruhigt, sie werden nicht in allen israëlitischen
Städten herumgekommen sein, ἔως ἄν [ἔλ]ϑ[ῃ] ὁ υἱὸς τοῦ ἀν-
ϑρώπου: so würde man, diesen Ausspruch für sich genom-
men, um so eher an eine dritte Person denken, deren bal-
dige messianische Ankunft Jesus verspreche, als er selber,
der Redende, ja bereits gekommen war, und man vorläu-
fig nicht sieht, wie er sein Kommen als ein erst bevorste-
hendes darstellen könne. Ebenso, wenn Jesus Matth. 13,
37 ff. den σπε[ί]ρων der Parabel als den υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου
deutet, welcher am Ende der Tage Ernte und Gericht hal-
ten werde: so könnte er an und für sich auch hier auf

9) Man denke nur an die Bezeichnung jener Davidischen Elegie
2 Sam. 1, 17 ff. durch קֶשֶׁת, und an die Benennung des Mes-
sias als צֶמַח. Hätte Schleiermacher diese jüdische Bezeich-
nungsweise beachten mögen, so hätte er nicht die Beziehung
des υἱὸς τοῦ ἀ. auf die Danielische Stelle einen sonderbaren
Einfall nennen können (Glaubensl. §. 99. S. 99. Anm.)
30*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0491" n="467"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Viertes Kapitel</hi>. §. 57.</fw><lb/>
einen blo&#x017F;sen Nebenzug, wie hier. die Vergleichung mit ei-<lb/>
nem Menschensohn, zur stehenden Bezeichnung einer Per-<lb/>
son oder Sache zu machen <note place="foot" n="9)">Man denke nur an die Bezeichnung jener Davidischen Elegie<lb/>
2 Sam. 1, 17 ff. durch <foreign xml:lang="heb">&#x05E7;&#x05B6;&#x05E9;&#x05C1;&#x05B6;&#x05EA;</foreign>, und an die Benennung des Mes-<lb/>
sias als <foreign xml:lang="heb">&#x05E6;&#x05B6;&#x05DE;&#x05B7;&#x05D7;</foreign>. Hätte <hi rendition="#k">Schleiermacher</hi> diese jüdische Bezeich-<lb/>
nungsweise beachten mögen, so hätte er nicht die Beziehung<lb/>
des <foreign xml:lang="ell">&#x03C5;&#x1F31;&#x1F78;&#x03C2; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FE6; &#x1F00;</foreign>. auf die Danielische Stelle einen sonderbaren<lb/>
Einfall nennen können (Glaubensl. §. 99. S. 99. Anm.)</note>. Mu&#x017F;ste so der Ausdruck<lb/><foreign xml:lang="ell">&#x1F41; &#x03C5;&#x1F31;&#x1F78;&#x03C2; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FE6; &#x1F00;&#x03BD;&#x03D1;&#x03C1;&#x03CE;&#x03C0;&#x03BF;&#x03C5;</foreign> nothwendig an die auf den Messias be-<lb/>
zogene Stelle des Daniel erinnern: so konnte Jesus den-<lb/>
selben unmöglich so oft, und zwar in Verbindungen, wel-<lb/>
che auf den Messias deuteten, gebrauchen, ohne diesen<lb/>
dadurch bezeichnen zu wollen.</p><lb/>
            <p>Weit eher, als die Annahme, er habe mit dem be-<lb/>
sprochenen Ausdruck sich selbst ohne Bezug auf die mes-<lb/>
sianische Würde gemeint, lie&#x017F;se sich vielleicht die umge-<lb/>
kehrte Vermuthung begründen, er möchte wohl öfters,<lb/>
wenn er vom <foreign xml:lang="ell">&#x03C5;&#x1F31;&#x1F78;&#x03C2; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FE6; &#x1F00;&#x03BD;&#x03D1;&#x03C1;&#x03CE;&#x03C0;&#x03BF;&#x03C5;</foreign> sprach, den Messias, aber<lb/>
ohne Bezug auf seine Person, gemeint haben. Wenn er<lb/>
Matth. 10, 23. bei der ersten Aussendung der Zwölfe zur<lb/>
Verkündigung des Gottesreichs diese über die ihnen bevor-<lb/>
stehenden Verfolgungen durch die schon angeführte Ver-<lb/>
sicherung beruhigt, sie werden nicht in allen israëlitischen<lb/>
Städten herumgekommen sein, <foreign xml:lang="ell">&#x1F14;&#x03C9;&#x03C2; &#x1F04;&#x03BD; <supplied>&#x1F14;&#x03BB;</supplied>&#x03D1;<supplied>&#x1FC3;</supplied> &#x1F41; &#x03C5;&#x1F31;&#x1F78;&#x03C2; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FE6; &#x1F00;&#x03BD;-<lb/>
&#x03D1;&#x03C1;&#x03CE;&#x03C0;&#x03BF;&#x03C5;</foreign>: so würde man, diesen Ausspruch für sich genom-<lb/>
men, um so eher an eine dritte Person denken, deren bal-<lb/>
dige messianische Ankunft Jesus verspreche, als er selber,<lb/>
der Redende, ja bereits gekommen war, und man vorläu-<lb/>
fig nicht sieht, wie er sein Kommen als ein erst bevorste-<lb/>
hendes darstellen könne. Ebenso, wenn Jesus Matth. 13,<lb/>
37 ff. den <foreign xml:lang="ell">&#x03C3;&#x03C0;&#x03B5;<supplied>&#x1F77;</supplied>&#x03C1;&#x03C9;&#x03BD;</foreign> der Parabel als den <foreign xml:lang="ell">&#x03C5;&#x1F31;&#x1F78;&#x03C2; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FE6; &#x1F00;&#x03BD;&#x03D1;&#x03C1;&#x03CE;&#x03C0;&#x03BF;&#x03C5;</foreign><lb/>
deutet, welcher am Ende der Tage Ernte und Gericht hal-<lb/>
ten werde: so könnte er an und für sich auch hier auf<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">30*</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[467/0491] Viertes Kapitel. §. 57. einen bloſsen Nebenzug, wie hier. die Vergleichung mit ei- nem Menschensohn, zur stehenden Bezeichnung einer Per- son oder Sache zu machen 9). Muſste so der Ausdruck ὁ υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου nothwendig an die auf den Messias be- zogene Stelle des Daniel erinnern: so konnte Jesus den- selben unmöglich so oft, und zwar in Verbindungen, wel- che auf den Messias deuteten, gebrauchen, ohne diesen dadurch bezeichnen zu wollen. Weit eher, als die Annahme, er habe mit dem be- sprochenen Ausdruck sich selbst ohne Bezug auf die mes- sianische Würde gemeint, lieſse sich vielleicht die umge- kehrte Vermuthung begründen, er möchte wohl öfters, wenn er vom υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου sprach, den Messias, aber ohne Bezug auf seine Person, gemeint haben. Wenn er Matth. 10, 23. bei der ersten Aussendung der Zwölfe zur Verkündigung des Gottesreichs diese über die ihnen bevor- stehenden Verfolgungen durch die schon angeführte Ver- sicherung beruhigt, sie werden nicht in allen israëlitischen Städten herumgekommen sein, ἔως ἄν ἔλϑῃ ὁ υἱὸς τοῦ ἀν- ϑρώπου: so würde man, diesen Ausspruch für sich genom- men, um so eher an eine dritte Person denken, deren bal- dige messianische Ankunft Jesus verspreche, als er selber, der Redende, ja bereits gekommen war, und man vorläu- fig nicht sieht, wie er sein Kommen als ein erst bevorste- hendes darstellen könne. Ebenso, wenn Jesus Matth. 13, 37 ff. den σπείρων der Parabel als den υἱὸς τοῦ ἀνϑρώπου deutet, welcher am Ende der Tage Ernte und Gericht hal- ten werde: so könnte er an und für sich auch hier auf 9) Man denke nur an die Bezeichnung jener Davidischen Elegie 2 Sam. 1, 17 ff. durch קֶשֶׁת, und an die Benennung des Mes- sias als צֶמַח. Hätte Schleiermacher diese jüdische Bezeich- nungsweise beachten mögen, so hätte er nicht die Beziehung des υἱὸς τοῦ ἀ. auf die Danielische Stelle einen sonderbaren Einfall nennen können (Glaubensl. §. 99. S. 99. Anm.) 30*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/491
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/491>, abgerufen am 26.06.2024.