Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Drittes Kapitel. §. 53. man nicht wissen, ob nicht Manches, was er in den frü-heren Theilen seiner Schrift ohne Ortsangabe erzähle, viel- leicht ihm selber wohl bewusst, nur von ihm nicht erwähnt, bei den früheren judäischen Reisen und Aufenthalten vor- gefallen sei 2). Allein dieses angebliche Zurücktreten des lokalen Interesses bei Matthäus ist, wie man neuestens gründlich nachgewiesen hat 3), nichts weiter als eine har- monistische Fiktion. Wenn Matthäus so sorgfältig Kap. 4. den Anfang und K. 19. das Ende des vorwiegend galiläi- schen Aufenthalts Jesu angiebt: so muss doch wohl das dazwischen Erzählte, wenn nicht besonders das Gegentheil bemerkt wird, als in Galiläa vorgefallen betrachtet werden; da er es alsbald bemerklich macht, wenn Jesus nur auf kurze Zeit über den galiläischen See hinüberfuhr, oder ei- nen Zug nach Nordgaliläa unternahm: so wird er doch nicht die bedeutenderen Reisen nach Judäa und die zum Theil längeren Aufenthalte daselbst mit Stillschweigen über- gangen haben, wenn er etwas von denselben wusste oder wissen wollte. Nur so viel ist zuzugeben, dass die spe- ciellsten Lokalitätsangaben, die Bezeichnungen der Orte und Ortsgebiete, in welchen Jesus wirkte, bei Matthäus nicht selten vernachlässigt sich finden; in dem Allgemeineren der Ortsbestimmungen hingegen, in der Angabe der palästini- schen Landestheile und Provinzen, innerhalb deren Je- sus wirksam war, will er so genau sein, als irgend ein Anderer. Man wird sich daher bequemen müssen, in diesem 2) Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 194. 3) Schneckenburger, Beiträge, S. 38 f.; über den Ursprung u. s. f. S. 7 f. 4) de Wette, Einleitung in das N. T. §. 98 und 106. Das Leben Jesu I. Band. 28
Drittes Kapitel. §. 53. man nicht wissen, ob nicht Manches, was er in den frü-heren Theilen seiner Schrift ohne Ortsangabe erzähle, viel- leicht ihm selber wohl bewuſst, nur von ihm nicht erwähnt, bei den früheren judäischen Reisen und Aufenthalten vor- gefallen sei 2). Allein dieses angebliche Zurücktreten des lokalen Interesses bei Matthäus ist, wie man neuestens gründlich nachgewiesen hat 3), nichts weiter als eine har- monistische Fiktion. Wenn Matthäus so sorgfältig Kap. 4. den Anfang und K. 19. das Ende des vorwiegend galiläi- schen Aufenthalts Jesu angiebt: so muſs doch wohl das dazwischen Erzählte, wenn nicht besonders das Gegentheil bemerkt wird, als in Galiläa vorgefallen betrachtet werden; da er es alsbald bemerklich macht, wenn Jesus nur auf kurze Zeit über den galiläischen See hinüberfuhr, oder ei- nen Zug nach Nordgaliläa unternahm: so wird er doch nicht die bedeutenderen Reisen nach Judäa und die zum Theil längeren Aufenthalte daselbst mit Stillschweigen über- gangen haben, wenn er etwas von denselben wuſste oder wissen wollte. Nur so viel ist zuzugeben, daſs die spe- ciellsten Lokalitätsangaben, die Bezeichnungen der Orte und Ortsgebiete, in welchen Jesus wirkte, bei Matthäus nicht selten vernachlässigt sich finden; in dem Allgemeineren der Ortsbestimmungen hingegen, in der Angabe der palästini- schen Landestheile und Provinzen, innerhalb deren Je- sus wirksam war, will er so genau sein, als irgend ein Anderer. Man wird sich daher bequemen müssen, in diesem 2) Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 194. 3) Schneckenburger, Beiträge, S. 38 f.; über den Ursprung u. s. f. S. 7 f. 4) de Wette, Einleitung in das N. T. §. 98 und 106. Das Leben Jesu I. Band. 28
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0457" n="433"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Drittes Kapitel</hi>. §. 53.</fw><lb/> man nicht wissen, ob nicht Manches, was er in den frü-<lb/> heren Theilen seiner Schrift ohne Ortsangabe erzähle, viel-<lb/> leicht ihm selber wohl bewuſst, nur von ihm nicht erwähnt,<lb/> bei den früheren judäischen Reisen und Aufenthalten vor-<lb/> gefallen sei <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#k">Olshausen</hi>, bibl. Comm. 1, S. 194.</note>. Allein dieses angebliche Zurücktreten des<lb/> lokalen Interesses bei Matthäus ist, wie man neuestens<lb/> gründlich nachgewiesen hat <note place="foot" n="3)"><hi rendition="#k">Schneckenburger</hi>, Beiträge, S. 38 f.; über den Ursprung u.<lb/> s. f. S. 7 f.</note>, nichts weiter als eine har-<lb/> monistische Fiktion. Wenn Matthäus so sorgfältig Kap. 4.<lb/> den Anfang und K. 19. das Ende des vorwiegend galiläi-<lb/> schen Aufenthalts Jesu angiebt: so muſs doch wohl das<lb/> dazwischen Erzählte, wenn nicht besonders das Gegentheil<lb/> bemerkt wird, als in Galiläa vorgefallen betrachtet werden;<lb/> da er es alsbald bemerklich macht, wenn Jesus nur auf<lb/> kurze Zeit über den galiläischen See hinüberfuhr, oder ei-<lb/> nen Zug nach Nordgaliläa unternahm: so wird er doch<lb/> nicht die bedeutenderen Reisen nach Judäa und die zum<lb/> Theil längeren Aufenthalte daselbst mit Stillschweigen über-<lb/> gangen haben, wenn er etwas von denselben wuſste oder<lb/> wissen wollte. Nur so viel ist zuzugeben, daſs die spe-<lb/> ciellsten Lokalitätsangaben, die Bezeichnungen der Orte und<lb/> Ortsgebiete, in welchen Jesus wirkte, bei Matthäus nicht<lb/> selten vernachlässigt sich finden; in dem Allgemeineren der<lb/> Ortsbestimmungen hingegen, in der Angabe der palästini-<lb/> schen Landestheile und Provinzen, innerhalb deren Je-<lb/> sus wirksam war, will er so genau sein, als irgend ein<lb/> Anderer.</p><lb/> <p>Man wird sich daher bequemen müssen, in diesem<lb/> Stücke eine Differenz zwischen den Synoptikern und Jo-<lb/> hannes einzuräumen <note place="foot" n="4)"><hi rendition="#k">de Wette</hi>, Einleitung in das N. T. §. 98 und 106.</note>, wobei dann, wer die Evangelien<lb/> harmonisiren zu müssen glaubt, zu verhüten suchen muſs,<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#i">Das Leben Jesu I. Band.</hi> 28</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [433/0457]
Drittes Kapitel. §. 53.
man nicht wissen, ob nicht Manches, was er in den frü-
heren Theilen seiner Schrift ohne Ortsangabe erzähle, viel-
leicht ihm selber wohl bewuſst, nur von ihm nicht erwähnt,
bei den früheren judäischen Reisen und Aufenthalten vor-
gefallen sei 2). Allein dieses angebliche Zurücktreten des
lokalen Interesses bei Matthäus ist, wie man neuestens
gründlich nachgewiesen hat 3), nichts weiter als eine har-
monistische Fiktion. Wenn Matthäus so sorgfältig Kap. 4.
den Anfang und K. 19. das Ende des vorwiegend galiläi-
schen Aufenthalts Jesu angiebt: so muſs doch wohl das
dazwischen Erzählte, wenn nicht besonders das Gegentheil
bemerkt wird, als in Galiläa vorgefallen betrachtet werden;
da er es alsbald bemerklich macht, wenn Jesus nur auf
kurze Zeit über den galiläischen See hinüberfuhr, oder ei-
nen Zug nach Nordgaliläa unternahm: so wird er doch
nicht die bedeutenderen Reisen nach Judäa und die zum
Theil längeren Aufenthalte daselbst mit Stillschweigen über-
gangen haben, wenn er etwas von denselben wuſste oder
wissen wollte. Nur so viel ist zuzugeben, daſs die spe-
ciellsten Lokalitätsangaben, die Bezeichnungen der Orte und
Ortsgebiete, in welchen Jesus wirkte, bei Matthäus nicht
selten vernachlässigt sich finden; in dem Allgemeineren der
Ortsbestimmungen hingegen, in der Angabe der palästini-
schen Landestheile und Provinzen, innerhalb deren Je-
sus wirksam war, will er so genau sein, als irgend ein
Anderer.
Man wird sich daher bequemen müssen, in diesem
Stücke eine Differenz zwischen den Synoptikern und Jo-
hannes einzuräumen 4), wobei dann, wer die Evangelien
harmonisiren zu müssen glaubt, zu verhüten suchen muſs,
2) Olshausen, bibl. Comm. 1, S. 194.
3) Schneckenburger, Beiträge, S. 38 f.; über den Ursprung u.
s. f. S. 7 f.
4) de Wette, Einleitung in das N. T. §. 98 und 106.
Das Leben Jesu I. Band. 28
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |