Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
Galiläa umherzog (7, 1.). Aber schon wieder reist er von
da zum Laubhüttenfest nach Jerusalem (V. 2. 10.), und
aus seinem diessmaligen Aufenthalt daselbst werden uns
besonders viele Reden von ihm und Schwankungen seiner
Stellung mitgetheilt (7, 10--10, 21.), auch an denselben, oh-
ne einer Wegreise aus Jerusalem und Judäa zu erwähnen,
unmittelbar sein Auftreten bei dem Fest der Tempelweihe
angeknüpft (10, 22.). Nach diesem zog sich Jesus wieder
in die Gegend von Peräa, wo er zuerst mit Johannes ge-
wesen war, zurück (10, 40.) und hielt sich einige Zeit da-
selbst auf, bis ihn der Tod des Lazarus nach Bethanien
bei Jerusalem rief (11, 1 ff.), von wo er sich nach Ephraim,
in der Nähe der jüdischen Wüste, zurückzog (V. 54.), bis
das Paschafest sich nahte, welches Jesus sofort, als sein
leztes, besuchte (12, 1 ff.).

Nach Johannes war also Jesus vor seiner lezten Fest-
reise schon bei vier Festen in Jerusalem und ausserdem
Einmal in Bethanien gewesen, hatte ferner längere Zeit in
der Landschaft Judäa und auf der Durchreise auch in Sa-
maria gewirkt.

Warum haben nun, muss man fragen, die Synoptiker
diese öftere Anwesenheit Jesu in Jerusalem und Judäa ver-
schwiegen? warum die Sache so dargestellt, als wäre Je-
sus vor seiner lezten, verhängnissvollen Reise nach Jerusa-
lem nicht über Galiläa und Peräa hinausgekommen? Lan-
ge Zeit freilich hat man in der Kirche diese Abweichung
der synoptischen Darstellung übersehen, und neuerlich die-
selbe sogar leugnen zu dürfen geglaubt. Allerdings, hat
man gesagt, verlege Matthäus gleich Anfangs die Scene
nach Galiläa und Kapernaum, und erzähle fort, ohne, bis
auf die lezte, einer Reise nach Judäa zu gedenken: allein
daraus dürfe man nicht schliessen, Matthäus wisse nichts
von einer früheren judäischen Thätigkeit Jesu; denn da bei
diesem Evangelisten das lokale Interesse hinter dem Stre-
ben nach einer Sachordnung gänzlich zurücktrete, so könne

Zweiter Abschnitt.
Galiläa umherzog (7, 1.). Aber schon wieder reist er von
da zum Laubhüttenfest nach Jerusalem (V. 2. 10.), und
aus seinem dieſsmaligen Aufenthalt daselbst werden uns
besonders viele Reden von ihm und Schwankungen seiner
Stellung mitgetheilt (7, 10—10, 21.), auch an denselben, oh-
ne einer Wegreise aus Jerusalem und Judäa zu erwähnen,
unmittelbar sein Auftreten bei dem Fest der Tempelweihe
angeknüpft (10, 22.). Nach diesem zog sich Jesus wieder
in die Gegend von Peräa, wo er zuerst mit Johannes ge-
wesen war, zurück (10, 40.) und hielt sich einige Zeit da-
selbst auf, bis ihn der Tod des Lazarus nach Bethanien
bei Jerusalem rief (11, 1 ff.), von wo er sich nach Ephraim,
in der Nähe der jüdischen Wüste, zurückzog (V. 54.), bis
das Paschafest sich nahte, welches Jesus sofort, als sein
leztes, besuchte (12, 1 ff.).

Nach Johannes war also Jesus vor seiner lezten Fest-
reise schon bei vier Festen in Jerusalem und ausserdem
Einmal in Bethanien gewesen, hatte ferner längere Zeit in
der Landschaft Judäa und auf der Durchreise auch in Sa-
maria gewirkt.

Warum haben nun, muſs man fragen, die Synoptiker
diese öftere Anwesenheit Jesu in Jerusalem und Judäa ver-
schwiegen? warum die Sache so dargestellt, als wäre Je-
sus vor seiner lezten, verhängniſsvollen Reise nach Jerusa-
lem nicht über Galiläa und Peräa hinausgekommen? Lan-
ge Zeit freilich hat man in der Kirche diese Abweichung
der synoptischen Darstellung übersehen, und neuerlich die-
selbe sogar leugnen zu dürfen geglaubt. Allerdings, hat
man gesagt, verlege Matthäus gleich Anfangs die Scene
nach Galiläa und Kapernaum, und erzähle fort, ohne, bis
auf die lezte, einer Reise nach Judäa zu gedenken: allein
daraus dürfe man nicht schlieſsen, Matthäus wisse nichts
von einer früheren judäischen Thätigkeit Jesu; denn da bei
diesem Evangelisten das lokale Interesse hinter dem Stre-
ben nach einer Sachordnung gänzlich zurücktrete, so könne

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0456" n="432"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
Galiläa umherzog (7, 1.). Aber schon wieder reist er von<lb/>
da zum Laubhüttenfest nach Jerusalem (V. 2. 10.), und<lb/>
aus seinem die&#x017F;smaligen Aufenthalt daselbst werden uns<lb/>
besonders viele Reden von ihm und Schwankungen seiner<lb/>
Stellung mitgetheilt (7, 10&#x2014;10, 21.), auch an denselben, oh-<lb/>
ne einer Wegreise aus Jerusalem und Judäa zu erwähnen,<lb/>
unmittelbar sein Auftreten bei dem Fest der Tempelweihe<lb/>
angeknüpft (10, 22.). Nach diesem zog sich Jesus wieder<lb/>
in die Gegend von Peräa, wo er zuerst mit Johannes ge-<lb/>
wesen war, zurück (10, 40.) und hielt sich einige Zeit da-<lb/>
selbst auf, bis ihn der Tod des Lazarus nach Bethanien<lb/>
bei Jerusalem rief (11, 1 ff.), von wo er sich nach Ephraim,<lb/>
in der Nähe der jüdischen Wüste, zurückzog (V. 54.), bis<lb/>
das Paschafest sich nahte, welches Jesus sofort, als sein<lb/>
leztes, besuchte (12, 1 ff.).</p><lb/>
            <p>Nach Johannes war also Jesus vor seiner lezten Fest-<lb/>
reise schon bei vier Festen in Jerusalem und ausserdem<lb/>
Einmal in Bethanien gewesen, hatte ferner längere Zeit in<lb/>
der Landschaft Judäa und auf der Durchreise auch in Sa-<lb/>
maria gewirkt.</p><lb/>
            <p>Warum haben nun, mu&#x017F;s man fragen, die Synoptiker<lb/>
diese öftere Anwesenheit Jesu in Jerusalem und Judäa ver-<lb/>
schwiegen? warum die Sache so dargestellt, als wäre Je-<lb/>
sus vor seiner lezten, verhängni&#x017F;svollen Reise nach Jerusa-<lb/>
lem nicht über Galiläa und Peräa hinausgekommen? Lan-<lb/>
ge Zeit freilich hat man in der Kirche diese Abweichung<lb/>
der synoptischen Darstellung übersehen, und neuerlich die-<lb/>
selbe sogar leugnen zu dürfen geglaubt. Allerdings, hat<lb/>
man gesagt, verlege Matthäus gleich Anfangs die Scene<lb/>
nach Galiläa und Kapernaum, und erzähle fort, ohne, bis<lb/>
auf die lezte, einer Reise nach Judäa zu gedenken: allein<lb/>
daraus dürfe man nicht schlie&#x017F;sen, Matthäus wisse nichts<lb/>
von einer früheren judäischen Thätigkeit Jesu; denn da bei<lb/>
diesem Evangelisten das lokale Interesse hinter dem Stre-<lb/>
ben nach einer Sachordnung gänzlich zurücktrete, so könne<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[432/0456] Zweiter Abschnitt. Galiläa umherzog (7, 1.). Aber schon wieder reist er von da zum Laubhüttenfest nach Jerusalem (V. 2. 10.), und aus seinem dieſsmaligen Aufenthalt daselbst werden uns besonders viele Reden von ihm und Schwankungen seiner Stellung mitgetheilt (7, 10—10, 21.), auch an denselben, oh- ne einer Wegreise aus Jerusalem und Judäa zu erwähnen, unmittelbar sein Auftreten bei dem Fest der Tempelweihe angeknüpft (10, 22.). Nach diesem zog sich Jesus wieder in die Gegend von Peräa, wo er zuerst mit Johannes ge- wesen war, zurück (10, 40.) und hielt sich einige Zeit da- selbst auf, bis ihn der Tod des Lazarus nach Bethanien bei Jerusalem rief (11, 1 ff.), von wo er sich nach Ephraim, in der Nähe der jüdischen Wüste, zurückzog (V. 54.), bis das Paschafest sich nahte, welches Jesus sofort, als sein leztes, besuchte (12, 1 ff.). Nach Johannes war also Jesus vor seiner lezten Fest- reise schon bei vier Festen in Jerusalem und ausserdem Einmal in Bethanien gewesen, hatte ferner längere Zeit in der Landschaft Judäa und auf der Durchreise auch in Sa- maria gewirkt. Warum haben nun, muſs man fragen, die Synoptiker diese öftere Anwesenheit Jesu in Jerusalem und Judäa ver- schwiegen? warum die Sache so dargestellt, als wäre Je- sus vor seiner lezten, verhängniſsvollen Reise nach Jerusa- lem nicht über Galiläa und Peräa hinausgekommen? Lan- ge Zeit freilich hat man in der Kirche diese Abweichung der synoptischen Darstellung übersehen, und neuerlich die- selbe sogar leugnen zu dürfen geglaubt. Allerdings, hat man gesagt, verlege Matthäus gleich Anfangs die Scene nach Galiläa und Kapernaum, und erzähle fort, ohne, bis auf die lezte, einer Reise nach Judäa zu gedenken: allein daraus dürfe man nicht schlieſsen, Matthäus wisse nichts von einer früheren judäischen Thätigkeit Jesu; denn da bei diesem Evangelisten das lokale Interesse hinter dem Stre- ben nach einer Sachordnung gänzlich zurücktrete, so könne

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/456
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/456>, abgerufen am 24.05.2024.