Nach Jerusalem umgekehrt, finden sie am dritten Tage den Sohn im Tempel, ohne Zweifel in einer der äusseren Hallen, unter einem consessus von Lehrern, in einer Un- terredung mit ihnen begriffen, und als Gegenstand allge- meiner Bewunderung (V. 45. ff.). Hier könnte es nach einigen Spuren scheinen, als wäre Jesu den Lehrern ge- genüber ein höheres Verhältniss gegeben, als es einem zwölfjährigen Knaben zukommen konnte. Schon das ka- thezomenon (V. 46.) hat Anstoss erregt, da nach jüdischen Nachrichten erst nach dem weit späteren Tode des Rab- ban Gamaliel die Sitte aufgekommen ist, dass die Rabbi- nenschüler sassen, während sie bis dahin in der Schule hatten stehen müssen 6); allein diese jüdische Tradition ist zweifelhaft 7). Auch das hat man anstössig gefunden, dass Jesus sich nicht blos receptiv als akouon, sondern auch aktiv als eperoton zu den Lehrern verhalte, und so gleich- sam als ihren Lehrer zu geriren scheine. So fassen es freilich die apokryphischen Evangelien, nach welchen Je- sus schon vor seinem zwölften Jahre alle Lehrer durch seine Fragen verlegen macht 8) und seinem Informator im Alphabet die mystische Bedeutung desselben aufschliesst 9); bei jenem Tempelbesuch aber Streitfragen wie die über den Messias als zugleich Davids Sohn und Herrn (Matth. 22, 41. ff.) auf die Bahn bringt 10), und sofort gleichsam in allen Fakultäten Unterricht ertheilt 11). Wäre freilich das erotan und apokrinesthai von einem solchen belehren- den Verhältniss zu verstehen: so müssten wir eines so un-
6) Megillah f. 21, 1, bei Lightfoot z. d. St.
7) s. bei Kuinöl, in Luc. p. 353.
8) Evangel. Thomae c. 6 ff. Bei Thilo, S. 288 ff. und evang. infant. arab. c. 48 ff. p. 123 ff. bei Thilo.
9) Ebend.
10) Evang. inf. arab. c. 50.
11) Im angef. Kap. und den folgenden; vergl. ev. Thomac c. 19.
Fünftes Kapitel. §. 36.
Nach Jerusalem umgekehrt, finden sie am dritten Tage den Sohn im Tempel, ohne Zweifel in einer der äusseren Hallen, unter einem consessus von Lehrern, in einer Un- terredung mit ihnen begriffen, und als Gegenstand allge- meiner Bewunderung (V. 45. ff.). Hier könnte es nach einigen Spuren scheinen, als wäre Jesu den Lehrern ge- genüber ein höheres Verhältniſs gegeben, als es einem zwölfjährigen Knaben zukommen konnte. Schon das κα- ϑεζόμενον (V. 46.) hat Anstoſs erregt, da nach jüdischen Nachrichten erst nach dem weit späteren Tode des Rab- ban Gamaliel die Sitte aufgekommen ist, daſs die Rabbi- nenschüler saſsen, während sie bis dahin in der Schule hatten stehen müssen 6); allein diese jüdische Tradition ist zweifelhaft 7). Auch das hat man anstöſsig gefunden, daſs Jesus sich nicht blos receptiv als ἀκούων, sondern auch aktiv als ἐπερωτῶν zu den Lehrern verhalte, und so gleich- sam als ihren Lehrer zu geriren scheine. So fassen es freilich die apokryphischen Evangelien, nach welchen Je- sus schon vor seinem zwölften Jahre alle Lehrer durch seine Fragen verlegen macht 8) und seinem Informator im Alphabet die mystische Bedeutung desselben aufschlieſst 9); bei jenem Tempelbesuch aber Streitfragen wie die über den Messias als zugleich Davids Sohn und Herrn (Matth. 22, 41. ff.) auf die Bahn bringt 10), und sofort gleichsam in allen Fakultäten Unterricht ertheilt 11). Wäre freilich das ἐρωτᾷν und ἀποκρίνεσϑαι von einem solchen belehren- den Verhältniſs zu verstehen: so müſsten wir eines so un-
6) Megillah f. 21, 1, bei Lightfoot z. d. St.
7) s. bei Kuinöl, in Luc. p. 353.
8) Evangel. Thomae c. 6 ff. Bei Thilo, S. 288 ff. und evang. infant. arab. c. 48 ff. p. 123 ff. bei Thilo.
9) Ebend.
10) Evang. inf. arab. c. 50.
11) Im angef. Kap. und den folgenden; vergl. ev. Thomac c. 19.
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Fünftes Kapitel. §. 36.
Nach Jerusalem umgekehrt, finden sie am dritten Tage
den Sohn im Tempel, ohne Zweifel in einer der äusseren
Hallen, unter einem consessus von Lehrern, in einer Un-
terredung mit ihnen begriffen, und als Gegenstand allge-
meiner Bewunderung (V. 45. ff.). Hier könnte es nach
einigen Spuren scheinen, als wäre Jesu den Lehrern ge-
genüber ein höheres Verhältniſs gegeben, als es einem
zwölfjährigen Knaben zukommen konnte. Schon das κα-
ϑεζόμενον (V. 46.) hat Anstoſs erregt, da nach jüdischen
Nachrichten erst nach dem weit späteren Tode des Rab-
ban Gamaliel die Sitte aufgekommen ist, daſs die Rabbi-
nenschüler saſsen, während sie bis dahin in der Schule
hatten stehen müssen 6); allein diese jüdische Tradition ist
zweifelhaft 7). Auch das hat man anstöſsig gefunden, daſs
Jesus sich nicht blos receptiv als ἀκούων, sondern auch
aktiv als ἐπερωτῶν zu den Lehrern verhalte, und so gleich-
sam als ihren Lehrer zu geriren scheine. So fassen es
freilich die apokryphischen Evangelien, nach welchen Je-
sus schon vor seinem zwölften Jahre alle Lehrer durch
seine Fragen verlegen macht 8) und seinem Informator im
Alphabet die mystische Bedeutung desselben aufschlieſst 9);
bei jenem Tempelbesuch aber Streitfragen wie die über
den Messias als zugleich Davids Sohn und Herrn (Matth.
22, 41. ff.) auf die Bahn bringt 10), und sofort gleichsam
in allen Fakultäten Unterricht ertheilt 11). Wäre freilich
das ἐρωτᾷν und ἀποκρίνεσϑαι von einem solchen belehren-
den Verhältniſs zu verstehen: so müſsten wir eines so un-
6) Megillah f. 21, 1, bei Lightfoot z. d. St.
7) s. bei Kuinöl, in Luc. p. 353.
8) Evangel. Thomae c. 6 ff. Bei Thilo, S. 288 ff. und evang.
infant. arab. c. 48 ff. p. 123 ff. bei Thilo.
9) Ebend.
10) Evang. inf. arab. c. 50.
11) Im angef. Kap. und den folgenden; vergl. ev. Thomac c. 19.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/305>, abgerufen am 24.11.2024.
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