Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
Fünftes Kapitel. §. 36.

Nach Jerusalem umgekehrt, finden sie am dritten Tage
den Sohn im Tempel, ohne Zweifel in einer der äusseren
Hallen, unter einem consessus von Lehrern, in einer Un-
terredung mit ihnen begriffen, und als Gegenstand allge-
meiner Bewunderung (V. 45. ff.). Hier könnte es nach
einigen Spuren scheinen, als wäre Jesu den Lehrern ge-
genüber ein höheres Verhältniss gegeben, als es einem
zwölfjährigen Knaben zukommen konnte. Schon das ka-
thezomenon (V. 46.) hat Anstoss erregt, da nach jüdischen
Nachrichten erst nach dem weit späteren Tode des Rab-
ban Gamaliel die Sitte aufgekommen ist, dass die Rabbi-
nenschüler sassen, während sie bis dahin in der Schule
hatten stehen müssen 6); allein diese jüdische Tradition ist
zweifelhaft 7). Auch das hat man anstössig gefunden, dass
Jesus sich nicht blos receptiv als akouon, sondern auch
aktiv als eperoton zu den Lehrern verhalte, und so gleich-
sam als ihren Lehrer zu geriren scheine. So fassen es
freilich die apokryphischen Evangelien, nach welchen Je-
sus schon vor seinem zwölften Jahre alle Lehrer durch
seine Fragen verlegen macht 8) und seinem Informator im
Alphabet die mystische Bedeutung desselben aufschliesst 9);
bei jenem Tempelbesuch aber Streitfragen wie die über
den Messias als zugleich Davids Sohn und Herrn (Matth.
22, 41. ff.) auf die Bahn bringt 10), und sofort gleichsam
in allen Fakultäten Unterricht ertheilt 11). Wäre freilich
das erotan und apokrinesthai von einem solchen belehren-
den Verhältniss zu verstehen: so müssten wir eines so un-

6) Megillah f. 21, 1, bei Lightfoot z. d. St.
7) s. bei Kuinöl, in Luc. p. 353.
8) Evangel. Thomae c. 6 ff. Bei Thilo, S. 288 ff. und evang.
infant. arab. c. 48 ff. p. 123 ff. bei Thilo.
9) Ebend.
10) Evang. inf. arab. c. 50.
11) Im angef. Kap. und den folgenden; vergl. ev. Thomac c. 19.
Fünftes Kapitel. §. 36.

Nach Jerusalem umgekehrt, finden sie am dritten Tage
den Sohn im Tempel, ohne Zweifel in einer der äusseren
Hallen, unter einem consessus von Lehrern, in einer Un-
terredung mit ihnen begriffen, und als Gegenstand allge-
meiner Bewunderung (V. 45. ff.). Hier könnte es nach
einigen Spuren scheinen, als wäre Jesu den Lehrern ge-
genüber ein höheres Verhältniſs gegeben, als es einem
zwölfjährigen Knaben zukommen konnte. Schon das κα-
ϑεζόμενον (V. 46.) hat Anstoſs erregt, da nach jüdischen
Nachrichten erst nach dem weit späteren Tode des Rab-
ban Gamaliel die Sitte aufgekommen ist, daſs die Rabbi-
nenschüler saſsen, während sie bis dahin in der Schule
hatten stehen müssen 6); allein diese jüdische Tradition ist
zweifelhaft 7). Auch das hat man anstöſsig gefunden, daſs
Jesus sich nicht blos receptiv als ἀκούων, sondern auch
aktiv als ἐπερωτῶν zu den Lehrern verhalte, und so gleich-
sam als ihren Lehrer zu geriren scheine. So fassen es
freilich die apokryphischen Evangelien, nach welchen Je-
sus schon vor seinem zwölften Jahre alle Lehrer durch
seine Fragen verlegen macht 8) und seinem Informator im
Alphabet die mystische Bedeutung desselben aufschlieſst 9);
bei jenem Tempelbesuch aber Streitfragen wie die über
den Messias als zugleich Davids Sohn und Herrn (Matth.
22, 41. ff.) auf die Bahn bringt 10), und sofort gleichsam
in allen Fakultäten Unterricht ertheilt 11). Wäre freilich
das ἐρωτᾷν und ἀποκρίνεσϑαι von einem solchen belehren-
den Verhältniſs zu verstehen: so müſsten wir eines so un-

6) Megillah f. 21, 1, bei Lightfoot z. d. St.
7) s. bei Kuinöl, in Luc. p. 353.
8) Evangel. Thomae c. 6 ff. Bei Thilo, S. 288 ff. und evang.
infant. arab. c. 48 ff. p. 123 ff. bei Thilo.
9) Ebend.
10) Evang. inf. arab. c. 50.
11) Im angef. Kap. und den folgenden; vergl. ev. Thomac c. 19.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0305" n="281"/>
            <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Fünftes Kapitel</hi>. §. 36.</fw><lb/>
            <p>Nach Jerusalem umgekehrt, finden sie am dritten Tage<lb/>
den Sohn im Tempel, ohne Zweifel in einer der äusseren<lb/>
Hallen, unter einem <hi rendition="#i">consessus</hi> von Lehrern, in einer Un-<lb/>
terredung mit ihnen begriffen, und als Gegenstand allge-<lb/>
meiner Bewunderung (V. 45. ff.). Hier könnte es nach<lb/>
einigen Spuren scheinen, als wäre Jesu den Lehrern ge-<lb/>
genüber ein höheres Verhältni&#x017F;s gegeben, als es einem<lb/>
zwölfjährigen Knaben zukommen konnte. Schon das <foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03B1;-<lb/>
&#x03D1;&#x03B5;&#x03B6;&#x03CC;&#x03BC;&#x03B5;&#x03BD;&#x03BF;&#x03BD;</foreign> (V. 46.) hat Ansto&#x017F;s erregt, da nach jüdischen<lb/>
Nachrichten erst nach dem weit späteren Tode des Rab-<lb/>
ban Gamaliel die Sitte aufgekommen ist, da&#x017F;s die Rabbi-<lb/>
nenschüler sa&#x017F;sen, während sie bis dahin in der Schule<lb/>
hatten stehen müssen <note place="foot" n="6)">Megillah f. 21, 1, bei <hi rendition="#k">Lightfoot</hi> z. d. St.</note>; allein diese jüdische Tradition ist<lb/>
zweifelhaft <note place="foot" n="7)">s. bei <hi rendition="#k">Kuinöl</hi>, in Luc. p. 353.</note>. Auch das hat man anstö&#x017F;sig gefunden, da&#x017F;s<lb/>
Jesus sich nicht blos receptiv als <foreign xml:lang="ell">&#x1F00;&#x03BA;&#x03BF;&#x03CD;&#x03C9;&#x03BD;</foreign>, sondern auch<lb/>
aktiv als <foreign xml:lang="ell">&#x1F10;&#x03C0;&#x03B5;&#x03C1;&#x03C9;&#x03C4;&#x1FF6;&#x03BD;</foreign> zu den Lehrern verhalte, und so gleich-<lb/>
sam als ihren Lehrer zu geriren scheine. So fassen es<lb/>
freilich die apokryphischen Evangelien, nach welchen Je-<lb/>
sus schon vor seinem zwölften Jahre alle Lehrer durch<lb/>
seine Fragen verlegen macht <note place="foot" n="8)">Evangel. Thomae c. 6 ff. Bei <hi rendition="#k">Thilo</hi>, S. 288 ff. und evang.<lb/>
infant. arab. c. 48 ff. p. 123 ff. bei <hi rendition="#k">Thilo</hi>.</note> und seinem Informator im<lb/>
Alphabet die mystische Bedeutung desselben aufschlie&#x017F;st <note place="foot" n="9)">Ebend.</note>;<lb/>
bei jenem Tempelbesuch aber Streitfragen wie die über<lb/>
den Messias als zugleich Davids Sohn und Herrn (Matth.<lb/>
22, 41. ff.) auf die Bahn bringt <note place="foot" n="10)">Evang. inf. arab. c. 50.</note>, und sofort gleichsam<lb/>
in allen Fakultäten Unterricht ertheilt <note place="foot" n="11)">Im angef. Kap. und den folgenden; vergl. ev. Thomac c. 19.</note>. Wäre freilich<lb/>
das <foreign xml:lang="ell">&#x1F10;&#x03C1;&#x03C9;&#x03C4;&#x1FB7;&#x03BD;</foreign> und <foreign xml:lang="ell">&#x1F00;&#x03C0;&#x03BF;&#x03BA;&#x03C1;&#x03AF;&#x03BD;&#x03B5;&#x03C3;&#x03D1;&#x03B1;&#x03B9;</foreign> von einem solchen belehren-<lb/>
den Verhältni&#x017F;s zu verstehen: so mü&#x017F;sten wir eines so un-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[281/0305] Fünftes Kapitel. §. 36. Nach Jerusalem umgekehrt, finden sie am dritten Tage den Sohn im Tempel, ohne Zweifel in einer der äusseren Hallen, unter einem consessus von Lehrern, in einer Un- terredung mit ihnen begriffen, und als Gegenstand allge- meiner Bewunderung (V. 45. ff.). Hier könnte es nach einigen Spuren scheinen, als wäre Jesu den Lehrern ge- genüber ein höheres Verhältniſs gegeben, als es einem zwölfjährigen Knaben zukommen konnte. Schon das κα- ϑεζόμενον (V. 46.) hat Anstoſs erregt, da nach jüdischen Nachrichten erst nach dem weit späteren Tode des Rab- ban Gamaliel die Sitte aufgekommen ist, daſs die Rabbi- nenschüler saſsen, während sie bis dahin in der Schule hatten stehen müssen 6); allein diese jüdische Tradition ist zweifelhaft 7). Auch das hat man anstöſsig gefunden, daſs Jesus sich nicht blos receptiv als ἀκούων, sondern auch aktiv als ἐπερωτῶν zu den Lehrern verhalte, und so gleich- sam als ihren Lehrer zu geriren scheine. So fassen es freilich die apokryphischen Evangelien, nach welchen Je- sus schon vor seinem zwölften Jahre alle Lehrer durch seine Fragen verlegen macht 8) und seinem Informator im Alphabet die mystische Bedeutung desselben aufschlieſst 9); bei jenem Tempelbesuch aber Streitfragen wie die über den Messias als zugleich Davids Sohn und Herrn (Matth. 22, 41. ff.) auf die Bahn bringt 10), und sofort gleichsam in allen Fakultäten Unterricht ertheilt 11). Wäre freilich das ἐρωτᾷν und ἀποκρίνεσϑαι von einem solchen belehren- den Verhältniſs zu verstehen: so müſsten wir eines so un- 6) Megillah f. 21, 1, bei Lightfoot z. d. St. 7) s. bei Kuinöl, in Luc. p. 353. 8) Evangel. Thomae c. 6 ff. Bei Thilo, S. 288 ff. und evang. infant. arab. c. 48 ff. p. 123 ff. bei Thilo. 9) Ebend. 10) Evang. inf. arab. c. 50. 11) Im angef. Kap. und den folgenden; vergl. ev. Thomac c. 19.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/305
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/305>, abgerufen am 17.05.2024.