Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Erster Abschnitt. sie zunächst nicht, weil sie ihn irgendwo bei der Reisege-sellschaft vermutheten. Erst nachdem sie eine Tagreise ohne ihn zurückgelegt, und ihn bei Verwandten und Be- kannten vergeblich gesucht, kehren sie nach Jerusalem zu- rück, um dort nach ihm zu sehen. -- Diess Benehmen der Eltern Jesu muss befremden. Man kann es mit der Sorg- falt, die man von denselben voraussetzen zu dürfen glaubt, nicht reimen, dass sie das ihnen anvertraute Himmelskind so lange aus den Augen gelassen haben, und man hat ih- nen daher von manchen Seiten in Bezug auf diesen Fall geradezu Nachlässigkeit und Pflichtversäumniss vorgewor- fen 3). Wenn man hiegegen zur Rechtfertigung der El- tern Jesu sich im Allgemeinen darauf beruft, dass bei ei- ner liberalen Erziehung eine solche dem Knaben gestatte- te grössere Freiheit leicht denkbar sei 4): so wäre selbst nach unsern modernen Begriffen ein solches Ausserachtlas- sen eines zwölfjährigen Knaben von Seiten der Eltern mehr als nur liberal, und wie vollends nach den strengeren An- sichten, welche das Alterthum, auch das jüdische, von Kin- derzucht hatte? Wird aber bemerkt, dass insbesondere, wie die Eltern Jesu ihren Sohn kannten, sie seinem Ver- stand und Charakter wohl so weit haben trauen können, um von einem solchen freieren Gehenlassen keine Gefahr für ihn befürchten zu müssen 5): so kann man aus ihrer nachherigen Angst ersehen, dass sie hierin ihrer Sache doch nicht so ganz gewiss waren. Unerwartet bleibt also immer ihr Benehmen, ohne dass es jedoch damit un- glaublich, oder schon durch diesen Zug die ganze Erzäh- lung unwahrscheinlich würde; denn die Eltern Jesu sind uns ja keine Heiligen, welchen kein Fehler zugetraut wer- den dürfte. 3) Olshausen, a. a. O. 1, 150. 4) Hase, Leben Jesu, §. 33. 5) Heydenreich, über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 103.
Erster Abschnitt. sie zunächst nicht, weil sie ihn irgendwo bei der Reisege-sellschaft vermutheten. Erst nachdem sie eine Tagreise ohne ihn zurückgelegt, und ihn bei Verwandten und Be- kannten vergeblich gesucht, kehren sie nach Jerusalem zu- rück, um dort nach ihm zu sehen. — Dieſs Benehmen der Eltern Jesu muſs befremden. Man kann es mit der Sorg- falt, die man von denselben voraussetzen zu dürfen glaubt, nicht reimen, daſs sie das ihnen anvertraute Himmelskind so lange aus den Augen gelassen haben, und man hat ih- nen daher von manchen Seiten in Bezug auf diesen Fall geradezu Nachlässigkeit und Pflichtversäumniſs vorgewor- fen 3). Wenn man hiegegen zur Rechtfertigung der El- tern Jesu sich im Allgemeinen darauf beruft, daſs bei ei- ner liberalen Erziehung eine solche dem Knaben gestatte- te grössere Freiheit leicht denkbar sei 4): so wäre selbst nach unsern modernen Begriffen ein solches Ausserachtlas- sen eines zwölfjährigen Knaben von Seiten der Eltern mehr als nur liberal, und wie vollends nach den strengeren An- sichten, welche das Alterthum, auch das jüdische, von Kin- derzucht hatte? Wird aber bemerkt, daſs insbesondere, wie die Eltern Jesu ihren Sohn kannten, sie seinem Ver- stand und Charakter wohl so weit haben trauen können, um von einem solchen freieren Gehenlassen keine Gefahr für ihn befürchten zu müssen 5): so kann man aus ihrer nachherigen Angst ersehen, daſs sie hierin ihrer Sache doch nicht so ganz gewiſs waren. Unerwartet bleibt also immer ihr Benehmen, ohne daſs es jedoch damit un- glaublich, oder schon durch diesen Zug die ganze Erzäh- lung unwahrscheinlich würde; denn die Eltern Jesu sind uns ja keine Heiligen, welchen kein Fehler zugetraut wer- den dürfte. 3) Olshausen, a. a. O. 1, 150. 4) Hase, Leben Jesu, §. 33. 5) Heydenreich, über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 103.
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Erster Abschnitt.
sie zunächst nicht, weil sie ihn irgendwo bei der Reisege-
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ohne ihn zurückgelegt, und ihn bei Verwandten und Be-
kannten vergeblich gesucht, kehren sie nach Jerusalem zu-
rück, um dort nach ihm zu sehen. — Dieſs Benehmen der
Eltern Jesu muſs befremden. Man kann es mit der Sorg-
falt, die man von denselben voraussetzen zu dürfen glaubt,
nicht reimen, daſs sie das ihnen anvertraute Himmelskind
so lange aus den Augen gelassen haben, und man hat ih-
nen daher von manchen Seiten in Bezug auf diesen Fall
geradezu Nachlässigkeit und Pflichtversäumniſs vorgewor-
fen 3). Wenn man hiegegen zur Rechtfertigung der El-
tern Jesu sich im Allgemeinen darauf beruft, daſs bei ei-
ner liberalen Erziehung eine solche dem Knaben gestatte-
te grössere Freiheit leicht denkbar sei 4): so wäre selbst
nach unsern modernen Begriffen ein solches Ausserachtlas-
sen eines zwölfjährigen Knaben von Seiten der Eltern mehr
als nur liberal, und wie vollends nach den strengeren An-
sichten, welche das Alterthum, auch das jüdische, von Kin-
derzucht hatte? Wird aber bemerkt, daſs insbesondere,
wie die Eltern Jesu ihren Sohn kannten, sie seinem Ver-
stand und Charakter wohl so weit haben trauen können,
um von einem solchen freieren Gehenlassen keine Gefahr
für ihn befürchten zu müssen 5): so kann man aus ihrer
nachherigen Angst ersehen, daſs sie hierin ihrer Sache
doch nicht so ganz gewiſs waren. Unerwartet bleibt also
immer ihr Benehmen, ohne daſs es jedoch damit un-
glaublich, oder schon durch diesen Zug die ganze Erzäh-
lung unwahrscheinlich würde; denn die Eltern Jesu sind
uns ja keine Heiligen, welchen kein Fehler zugetraut wer-
den dürfte.
3) Olshausen, a. a. O. 1, 150.
4) Hase, Leben Jesu, §. 33.
5) Heydenreich, über die Unzulässigkeit u. s. f. 1, S. 103.
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