Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Erster Abschnitt.
habe nämlich noch nicht gewusst, dass Jesus von Bethle-
hem gebürtig gewesen. Man wird eine solche Notiz für
einen Johannes zu äusserlich und unbedeutend finden; al-
lein soviel ist gewiss, wenn er mehrmals von der Mei-
nung der Leute, dass Jesus ein geborner Nazarener sei,
und ihrem Anstoss daran zu erzählen hatte, so musste er,
wenn er es anders wusste, eine berichtigende Bemerkung
hinzufügen, oder er erregte den falschen Schein, als stim-
me auch er jener Meinung bei. Nun aber findet sich nicht
blos an jener Stelle, sondern auch Joh. 1, 46 ff. ein sol-
cher Anstoss, welchen hier, wie schon oben erwähnt, Na-
thanael an der nazaretanischen Abkunft Jesu nimmt, ohne
dass diese Meinung unmittelbar oder mittelbar berichtigt
würde; denn nirgends erfährt er nachher, dass dieser Gu-
te wirklich nicht aus Nazaret gewesen, sondern er muss
lernen, dass auch aus Nazaret etwas Gutes kommen könne.
Überhaupt, wäre Jesus, wenn auch noch so zufällig, in
Bethlehem geboren gewesen: so wäre es, bei der Bedeu-
tung, welche diess für den Glauben an seine Messianität
gehabt hätte, nicht zu begreifen, wie ihn auch die Seini-
gen immer nur den Nazarener nennen konnten, ohne die-
sem, von den Gegnern mit polemischem Accent ausgespro-
chenen Beinamen den apologetischen Ehrennamen des Beth-
lehemiten entgegenzustellen. -- Ist die Angabe von Jesu
Geburt in Bethlehem auf diese Weise von allen gültigen
historischen Zeugnissen verlassen, ja hat sie bestimmte ge-
schichtliche Thatsachen gegen sich, und lässt sie sich na-
mentlich mit dem, was uns nun feststeht, dass die Eltern
Jesu später, und, wie wir nicht anders wissen, auch von
jeher, in Nazaret gewohnt haben, und dass Jesus, sofern
uns keine glaubwürdige Nachricht vom Gegentheil versi-
chert, an keinem, von dem Wohnsitze seiner Eltern ver-
schiedenen Orte geboren sei, nicht vereinigen: so kann es
uns keine Überwindung mehr kosten, uns dahin zu ent-
scheiden, dass Jesus nicht in Bethlehem, sondern, da

Erster Abschnitt.
habe nämlich noch nicht gewuſst, daſs Jesus von Bethle-
hem gebürtig gewesen. Man wird eine solche Notiz für
einen Johannes zu äusserlich und unbedeutend finden; al-
lein soviel ist gewiſs, wenn er mehrmals von der Mei-
nung der Leute, daſs Jesus ein geborner Nazarener sei,
und ihrem Anstoſs daran zu erzählen hatte, so muſste er,
wenn er es anders wuſste, eine berichtigende Bemerkung
hinzufügen, oder er erregte den falschen Schein, als stim-
me auch er jener Meinung bei. Nun aber findet sich nicht
blos an jener Stelle, sondern auch Joh. 1, 46 ff. ein sol-
cher Anstoſs, welchen hier, wie schon oben erwähnt, Na-
thanaël an der nazaretanischen Abkunft Jesu nimmt, ohne
daſs diese Meinung unmittelbar oder mittelbar berichtigt
würde; denn nirgends erfährt er nachher, daſs dieser Gu-
te wirklich nicht aus Nazaret gewesen, sondern er muſs
lernen, daſs auch aus Nazaret etwas Gutes kommen könne.
Überhaupt, wäre Jesus, wenn auch noch so zufällig, in
Bethlehem geboren gewesen: so wäre es, bei der Bedeu-
tung, welche dieſs für den Glauben an seine Messianität
gehabt hätte, nicht zu begreifen, wie ihn auch die Seini-
gen immer nur den Nazarener nennen konnten, ohne die-
sem, von den Gegnern mit polemischem Accent ausgespro-
chenen Beinamen den apologetischen Ehrennamen des Beth-
lehemiten entgegenzustellen. — Ist die Angabe von Jesu
Geburt in Bethlehem auf diese Weise von allen gültigen
historischen Zeugnissen verlassen, ja hat sie bestimmte ge-
schichtliche Thatsachen gegen sich, und lässt sie sich na-
mentlich mit dem, was uns nun feststeht, daſs die Eltern
Jesu später, und, wie wir nicht anders wissen, auch von
jeher, in Nazaret gewohnt haben, und daſs Jesus, sofern
uns keine glaubwürdige Nachricht vom Gegentheil versi-
chert, an keinem, von dem Wohnsitze seiner Eltern ver-
schiedenen Orte geboren sei, nicht vereinigen: so kann es
uns keine Überwindung mehr kosten, uns dahin zu ent-
scheiden, daſs Jesus nicht in Bethlehem, sondern, da

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0300" n="276"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erster Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
habe nämlich noch nicht gewu&#x017F;st, da&#x017F;s Jesus von Bethle-<lb/>
hem gebürtig gewesen. Man wird eine solche Notiz für<lb/>
einen Johannes zu äusserlich und unbedeutend finden; al-<lb/>
lein soviel ist gewi&#x017F;s, wenn er <hi rendition="#g">mehrmals</hi> von der Mei-<lb/>
nung der Leute, da&#x017F;s Jesus ein geborner Nazarener sei,<lb/>
und ihrem Ansto&#x017F;s daran zu erzählen hatte, so mu&#x017F;ste er,<lb/>
wenn er es anders wu&#x017F;ste, eine berichtigende Bemerkung<lb/>
hinzufügen, oder er erregte den falschen Schein, als stim-<lb/>
me auch er jener Meinung bei. Nun aber findet sich nicht<lb/>
blos an jener Stelle, sondern auch Joh. 1, 46 ff. ein sol-<lb/>
cher Ansto&#x017F;s, welchen hier, wie schon oben erwähnt, Na-<lb/>
thanaël an der nazaretanischen Abkunft Jesu nimmt, ohne<lb/>
da&#x017F;s diese Meinung unmittelbar oder mittelbar berichtigt<lb/>
würde; denn nirgends erfährt er nachher, da&#x017F;s dieser Gu-<lb/>
te wirklich nicht aus Nazaret gewesen, sondern er mu&#x017F;s<lb/>
lernen, da&#x017F;s auch aus Nazaret etwas Gutes kommen könne.<lb/>
Überhaupt, wäre Jesus, wenn auch noch so zufällig, in<lb/>
Bethlehem geboren gewesen: so wäre es, bei der Bedeu-<lb/>
tung, welche die&#x017F;s für den Glauben an seine Messianität<lb/>
gehabt hätte, nicht zu begreifen, wie ihn auch die Seini-<lb/>
gen immer nur den Nazarener nennen konnten, ohne die-<lb/>
sem, von den Gegnern mit polemischem Accent ausgespro-<lb/>
chenen Beinamen den apologetischen Ehrennamen des Beth-<lb/>
lehemiten entgegenzustellen. &#x2014; Ist die Angabe von Jesu<lb/>
Geburt in Bethlehem auf diese Weise von allen gültigen<lb/>
historischen Zeugnissen verlassen, ja hat sie bestimmte ge-<lb/>
schichtliche Thatsachen gegen sich, und lässt sie sich na-<lb/>
mentlich mit dem, was uns nun feststeht, da&#x017F;s die Eltern<lb/>
Jesu später, und, wie wir nicht anders wissen, auch von<lb/>
jeher, in Nazaret gewohnt haben, und da&#x017F;s Jesus, sofern<lb/>
uns keine glaubwürdige Nachricht vom Gegentheil versi-<lb/>
chert, an keinem, von dem Wohnsitze seiner Eltern ver-<lb/>
schiedenen Orte geboren sei, nicht vereinigen: so kann es<lb/>
uns keine Überwindung mehr kosten, uns dahin zu ent-<lb/>
scheiden, da&#x017F;s Jesus nicht in Bethlehem, sondern, da<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[276/0300] Erster Abschnitt. habe nämlich noch nicht gewuſst, daſs Jesus von Bethle- hem gebürtig gewesen. Man wird eine solche Notiz für einen Johannes zu äusserlich und unbedeutend finden; al- lein soviel ist gewiſs, wenn er mehrmals von der Mei- nung der Leute, daſs Jesus ein geborner Nazarener sei, und ihrem Anstoſs daran zu erzählen hatte, so muſste er, wenn er es anders wuſste, eine berichtigende Bemerkung hinzufügen, oder er erregte den falschen Schein, als stim- me auch er jener Meinung bei. Nun aber findet sich nicht blos an jener Stelle, sondern auch Joh. 1, 46 ff. ein sol- cher Anstoſs, welchen hier, wie schon oben erwähnt, Na- thanaël an der nazaretanischen Abkunft Jesu nimmt, ohne daſs diese Meinung unmittelbar oder mittelbar berichtigt würde; denn nirgends erfährt er nachher, daſs dieser Gu- te wirklich nicht aus Nazaret gewesen, sondern er muſs lernen, daſs auch aus Nazaret etwas Gutes kommen könne. Überhaupt, wäre Jesus, wenn auch noch so zufällig, in Bethlehem geboren gewesen: so wäre es, bei der Bedeu- tung, welche dieſs für den Glauben an seine Messianität gehabt hätte, nicht zu begreifen, wie ihn auch die Seini- gen immer nur den Nazarener nennen konnten, ohne die- sem, von den Gegnern mit polemischem Accent ausgespro- chenen Beinamen den apologetischen Ehrennamen des Beth- lehemiten entgegenzustellen. — Ist die Angabe von Jesu Geburt in Bethlehem auf diese Weise von allen gültigen historischen Zeugnissen verlassen, ja hat sie bestimmte ge- schichtliche Thatsachen gegen sich, und lässt sie sich na- mentlich mit dem, was uns nun feststeht, daſs die Eltern Jesu später, und, wie wir nicht anders wissen, auch von jeher, in Nazaret gewohnt haben, und daſs Jesus, sofern uns keine glaubwürdige Nachricht vom Gegentheil versi- chert, an keinem, von dem Wohnsitze seiner Eltern ver- schiedenen Orte geboren sei, nicht vereinigen: so kann es uns keine Überwindung mehr kosten, uns dahin zu ent- scheiden, daſs Jesus nicht in Bethlehem, sondern, da

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/300
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/300>, abgerufen am 11.05.2024.