wir keine andere sichere Spur haben, in Nazaret gebo- ren sei.
Demnach würde sich in diesem Punkte das Verhält- niss der beiden Evangelisten folgendermassen stellen. Was das Formelle betrifft, hätte jeder zur Hälfte Recht und zur Hälfte Unrecht: Lukas Recht in der Behauptung der Identität des früheren Wohnorts der Eltern Jesu mit dem späteren, und hierin hätte Matthäus Unrecht; Matthäus Recht in der Festhaltung der Identität des Geburtsortes Jesu mit dem Wohnort seiner Eltern, und hierin wäre der Irrthum auf Seiten des Lukas. In Hinsicht auf das Materielle aber hat Lukas darin das völlig Richtige, dass er vor wie nach der Geburt Jesu dessen Eltern in Nazaret wohnen lässt, wo Matthäus nur die halbe Wahrheit hat, dass sie nämlich nach Jesu Geburt daselbst ansässig gewesen; in der Anga- be aber, dass Jesus in Bethlehem geboren worden, haben beide entschieden Unrecht. Woher nun alles Falsche bei beiden kommt, das ist die jüdische Meinung, der sie nachgaben, der Messias müsse zu Bethlehem geboren sein; woher aber alles Richtige, das ist das Faktum, welches sie vorfanden, dass Jesus immer als Nazaretaner gegolten hat; woher endlich das verschiedene Verhältniss des Wahren und Falschen in beiden, und das Übergewicht des lezteren Elementes bei Matthäus, das ist die verschiedene Weise, wie sich beide zu jenen Prämissen verhielten. Galt es nämlich eine Vereinigung der beiden Punkte: des histori- schen Datums, dass Jesus als Nazarener bekannt war, und des prophetischen Postulats, dass er, als Messias, zu Beth- lehem geboren sein müsse: so vollzog Matthäus, oder die Sage welcher er folgte, nach der vorwiegenden Richtung die- ses Evangeliums auf prophetischen Pragmatismus die Ver- einigung so, dass das Übergewicht auf das vom Propheten an die Hand gegebene Bethlehem gelegt, dieses schon als die ursprüngliche Heimath der Eltern Jesu angenommen, und Nazaret als der, nur durch eine spätere Wendung der
Viertes Kapitel. §. 35.
wir keine andere sichere Spur haben, in Nazaret gebo- ren sei.
Demnach würde sich in diesem Punkte das Verhält- niſs der beiden Evangelisten folgendermaſsen stellen. Was das Formelle betrifft, hätte jeder zur Hälfte Recht und zur Hälfte Unrecht: Lukas Recht in der Behauptung der Identität des früheren Wohnorts der Eltern Jesu mit dem späteren, und hierin hätte Matthäus Unrecht; Matthäus Recht in der Festhaltung der Identität des Geburtsortes Jesu mit dem Wohnort seiner Eltern, und hierin wäre der Irrthum auf Seiten des Lukas. In Hinsicht auf das Materielle aber hat Lukas darin das völlig Richtige, daſs er vor wie nach der Geburt Jesu dessen Eltern in Nazaret wohnen läſst, wo Matthäus nur die halbe Wahrheit hat, daſs sie nämlich nach Jesu Geburt daselbst ansässig gewesen; in der Anga- be aber, daſs Jesus in Bethlehem geboren worden, haben beide entschieden Unrecht. Woher nun alles Falsche bei beiden kommt, das ist die jüdische Meinung, der sie nachgaben, der Messias müsse zu Bethlehem geboren sein; woher aber alles Richtige, das ist das Faktum, welches sie vorfanden, daſs Jesus immer als Nazaretaner gegolten hat; woher endlich das verschiedene Verhältniſs des Wahren und Falschen in beiden, und das Übergewicht des lezteren Elementes bei Matthäus, das ist die verschiedene Weise, wie sich beide zu jenen Prämissen verhielten. Galt es nämlich eine Vereinigung der beiden Punkte: des histori- schen Datums, daſs Jesus als Nazarener bekannt war, und des prophetischen Postulats, daſs er, als Messias, zu Beth- lehem geboren sein müsse: so vollzog Matthäus, oder die Sage welcher er folgte, nach der vorwiegenden Richtung die- ses Evangeliums auf prophetischen Pragmatismus die Ver- einigung so, daſs das Übergewicht auf das vom Propheten an die Hand gegebene Bethlehem gelegt, dieses schon als die ursprüngliche Heimath der Eltern Jesu angenommen, und Nazaret als der, nur durch eine spätere Wendung der
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Viertes Kapitel. §. 35.
wir keine andere sichere Spur haben, in Nazaret gebo-
ren sei.
Demnach würde sich in diesem Punkte das Verhält-
niſs der beiden Evangelisten folgendermaſsen stellen. Was
das Formelle betrifft, hätte jeder zur Hälfte Recht und
zur Hälfte Unrecht: Lukas Recht in der Behauptung der
Identität des früheren Wohnorts der Eltern Jesu mit dem
späteren, und hierin hätte Matthäus Unrecht; Matthäus Recht
in der Festhaltung der Identität des Geburtsortes Jesu mit
dem Wohnort seiner Eltern, und hierin wäre der Irrthum
auf Seiten des Lukas. In Hinsicht auf das Materielle aber
hat Lukas darin das völlig Richtige, daſs er vor wie nach
der Geburt Jesu dessen Eltern in Nazaret wohnen läſst, wo
Matthäus nur die halbe Wahrheit hat, daſs sie nämlich
nach Jesu Geburt daselbst ansässig gewesen; in der Anga-
be aber, daſs Jesus in Bethlehem geboren worden, haben
beide entschieden Unrecht. Woher nun alles Falsche bei
beiden kommt, das ist die jüdische Meinung, der sie
nachgaben, der Messias müsse zu Bethlehem geboren sein;
woher aber alles Richtige, das ist das Faktum, welches sie
vorfanden, daſs Jesus immer als Nazaretaner gegolten hat;
woher endlich das verschiedene Verhältniſs des Wahren
und Falschen in beiden, und das Übergewicht des lezteren
Elementes bei Matthäus, das ist die verschiedene Weise,
wie sich beide zu jenen Prämissen verhielten. Galt es
nämlich eine Vereinigung der beiden Punkte: des histori-
schen Datums, daſs Jesus als Nazarener bekannt war, und
des prophetischen Postulats, daſs er, als Messias, zu Beth-
lehem geboren sein müsse: so vollzog Matthäus, oder die
Sage welcher er folgte, nach der vorwiegenden Richtung die-
ses Evangeliums auf prophetischen Pragmatismus die Ver-
einigung so, daſs das Übergewicht auf das vom Propheten
an die Hand gegebene Bethlehem gelegt, dieses schon als
die ursprüngliche Heimath der Eltern Jesu angenommen,
und Nazaret als der, nur durch eine spätere Wendung der
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/301>, abgerufen am 25.11.2024.
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