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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Erster Abschnitt.
verbieten, nicht unmöglich machen wollte, nicht gesagt ha-
ben: kai ese siopon, me dunamenos lalesai, sondern: isthi
siopon, med' epikheireses lalesai, wie auch das diemene
kophos (V. 21.) am natürlichsten von wirklicher Stumm-
heit verstanden wird. Soll also der Bericht, was auf die-
sem Standpunkte durchaus vorausgesezt wird und werden
muss, genau das wiedergeben, was Zacharias selbst über
das ihm Begegegnete erzählte: so müsste, wenn man eine
wirklich eingetretene Stummheit leugnet, da er doch durch
den Engel sich wirklich eine solche ankündigen lässt, an-
genommen werden, er habe, unerachtet er hätte reden
können, sich doch für stumm gehalten, was auf Verrückt-
heit führen würde, die man doch dem Vater des Johannes
ohne Nöthigung durch den Text nicht wird aufbürden
wollen.

Auch das berücksichtigt diese natürliche Erklärung zu
wenig, dass ihr zufolge einer aus so abnormem Seelenzu-
stande entsprungenen Vorherverkündigung der Erfolg mit
unbegreiflicher Genauigkeit entsprochen haben müsste. Ein
solches Eintreffen einer visionären Voraussagung würde
der Rationalist in keinem andern Gebiete glaublich finden.
Wie, wenn etwa Dr. Paulus von einer Somnambüle zu
lesen bekäme, sie habe in einer Ekstase die den Umstän-
den nach im höchsten Grade unwahrscheinliche Erzeugung
eines Kindes, und nicht nur eines Kindes überhaupt, son-
dern speciell eines Knaben, und zwar mit genauer Angabe
sogar seiner künftigen Geistesentwickelung und geschicht-
lichen Stellung vorausgesagt, und Alles sei auf's Genauste
eingetroffen: würde er ein solches Zusammentreffen an-
nehmlich finden? Gewiss, er würde einen solchen Blick in
die geheimste Werkstätte der zeugenden Natur keinem
Menschen in keinem Zustande zugestehen; namentlich wür-
de er über Frevel an der menschlichen Freiheit Klage er-
heben, welche durch die Annahme aufgehoben werde,
dass sich der ganze intellektuelle und moralische Entwick-

Erster Abschnitt.
verbieten, nicht unmöglich machen wollte, nicht gesagt ha-
ben: καὶ ἔσῃ σιωπῶν, μὴ δυνάμενος λαλῆσαι, sondern: ἴσϑι
σιωπῶν, μηδ' ἐπιχειρήσῃς λαλῆσαι, wie auch das διέμενε
κωφὸς (V. 21.) am natürlichsten von wirklicher Stumm-
heit verstanden wird. Soll also der Bericht, was auf die-
sem Standpunkte durchaus vorausgesezt wird und werden
muſs, genau das wiedergeben, was Zacharias selbst über
das ihm Begegegnete erzählte: so müſste, wenn man eine
wirklich eingetretene Stummheit leugnet, da er doch durch
den Engel sich wirklich eine solche ankündigen läſst, an-
genommen werden, er habe, unerachtet er hätte reden
können, sich doch für stumm gehalten, was auf Verrückt-
heit führen würde, die man doch dem Vater des Johannes
ohne Nöthigung durch den Text nicht wird aufbürden
wollen.

Auch das berücksichtigt diese natürliche Erklärung zu
wenig, daſs ihr zufolge einer aus so abnormem Seelenzu-
stande entsprungenen Vorherverkündigung der Erfolg mit
unbegreiflicher Genauigkeit entsprochen haben müſste. Ein
solches Eintreffen einer visionären Voraussagung würde
der Rationalist in keinem andern Gebiete glaublich finden.
Wie, wenn etwa Dr. Paulus von einer Somnambüle zu
lesen bekäme, sie habe in einer Ekstase die den Umstän-
den nach im höchsten Grade unwahrscheinliche Erzeugung
eines Kindes, und nicht nur eines Kindes überhaupt, son-
dern speciell eines Knaben, und zwar mit genauer Angabe
sogar seiner künftigen Geistesentwickelung und geschicht-
lichen Stellung vorausgesagt, und Alles sei auf's Genauste
eingetroffen: würde er ein solches Zusammentreffen an-
nehmlich finden? Gewiſs, er würde einen solchen Blick in
die geheimste Werkstätte der zeugenden Natur keinem
Menschen in keinem Zustande zugestehen; namentlich wür-
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[94/0118] Erster Abschnitt. verbieten, nicht unmöglich machen wollte, nicht gesagt ha- ben: καὶ ἔσῃ σιωπῶν, μὴ δυνάμενος λαλῆσαι, sondern: ἴσϑι σιωπῶν, μηδ' ἐπιχειρήσῃς λαλῆσαι, wie auch das διέμενε κωφὸς (V. 21.) am natürlichsten von wirklicher Stumm- heit verstanden wird. Soll also der Bericht, was auf die- sem Standpunkte durchaus vorausgesezt wird und werden muſs, genau das wiedergeben, was Zacharias selbst über das ihm Begegegnete erzählte: so müſste, wenn man eine wirklich eingetretene Stummheit leugnet, da er doch durch den Engel sich wirklich eine solche ankündigen läſst, an- genommen werden, er habe, unerachtet er hätte reden können, sich doch für stumm gehalten, was auf Verrückt- heit führen würde, die man doch dem Vater des Johannes ohne Nöthigung durch den Text nicht wird aufbürden wollen. Auch das berücksichtigt diese natürliche Erklärung zu wenig, daſs ihr zufolge einer aus so abnormem Seelenzu- stande entsprungenen Vorherverkündigung der Erfolg mit unbegreiflicher Genauigkeit entsprochen haben müſste. Ein solches Eintreffen einer visionären Voraussagung würde der Rationalist in keinem andern Gebiete glaublich finden. Wie, wenn etwa Dr. Paulus von einer Somnambüle zu lesen bekäme, sie habe in einer Ekstase die den Umstän- den nach im höchsten Grade unwahrscheinliche Erzeugung eines Kindes, und nicht nur eines Kindes überhaupt, son- dern speciell eines Knaben, und zwar mit genauer Angabe sogar seiner künftigen Geistesentwickelung und geschicht- lichen Stellung vorausgesagt, und Alles sei auf's Genauste eingetroffen: würde er ein solches Zusammentreffen an- nehmlich finden? Gewiſs, er würde einen solchen Blick in die geheimste Werkstätte der zeugenden Natur keinem Menschen in keinem Zustande zugestehen; namentlich wür- de er über Frevel an der menschlichen Freiheit Klage er- heben, welche durch die Annahme aufgehoben werde, daſs sich der ganze intellektuelle und moralische Entwick-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/118>, abgerufen am 02.05.2024.