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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Erster Abschnitt.
äusserst bedenklicher Fragen. Sind diese Vorstellungen,
so lange sie noch bloss bei auswärtigen Völkern waren,
falsch gewesen, und erst, als sie zu den Juden über-
giengen, wahr geworden? oder sind sie von jeher wahr
gewesen, und haben also abgöttische Völker eine so hohe
Wahrheit früher entdeckt, als das Volk Gottes? Waren
jene Völker von besondrer göttlicher Offenbarung ausge-
schlossen, kamen sie also durch ihre eigne Vernunft früher
auf jene Entdeckung, als die Juden mittelst ihrer Offenba-
rung: so scheint ja die Offenbarung überflüssig, oder nur
negativ, d. h. zur Verhinderung eines zu frühen Bekannt-
werdens wirksam zu sein; nimmt man aber, um dieser
Consequenz auszuweichen, lieber auch bei jenen nichtisrae-
litischen Völkern einen oftenbarenden Einfluss Gottes an:
so löst sich der supranaturalistische Standpunkt auf, und
wir dürfen, da in den sich gegenseitig widerstreitenden
Religionen doch nicht Alles geoffenbart sein kann, kritisch
auswählend verfahren. Da werden wir es nun einer ge-
läuterten Idee von Gott keineswegs angemessen finden, ihn,
wie einen menschlichen König, von einem Hofstaat umge-
ben zu denken, und wenn Olshausen sich für die Realität
solcher Thronengel auf die vernünftigerweise anzunehmen-
de Stufenleiter der Wesen beruft 6), so wird hiemit nicht
die hebräische Vorstellung gerechtfertigt, sondern ihr eine
moderne untergeschoben. Man wäre also auf den Ausweg
hingetrieben, eine Accommodation von Seiten Gottes anzu-
nehmen, d. h. dass er einen höheren Geist abgesendet habe
mit der Weisung, sich, um bei dem Vater des Täufers
Glauben zu finden, der jüdischen Vorstellung gemäss, ei-
nen Rang und Titel beizulegen, die er eigentlich nicht
hatte. Da aber, wie sogleich der Erfolg zeigte, Zacharias
auch so dem Engel nicht glaubte, sondern erst dem Er-
folg: so war jene ganze Accommodation unnütz und kann

6) Biblischer Commentar, 1. Thl. S. 99. (2te Auflage).

Erster Abschnitt.
äusserst bedenklicher Fragen. Sind diese Vorstellungen,
so lange sie noch bloſs bei auswärtigen Völkern waren,
falsch gewesen, und erst, als sie zu den Juden über-
giengen, wahr geworden? oder sind sie von jeher wahr
gewesen, und haben also abgöttische Völker eine so hohe
Wahrheit früher entdeckt, als das Volk Gottes? Waren
jene Völker von besondrer göttlicher Offenbarung ausge-
schlossen, kamen sie also durch ihre eigne Vernunft früher
auf jene Entdeckung, als die Juden mittelst ihrer Offenba-
rung: so scheint ja die Offenbarung überflüssig, oder nur
negativ, d. h. zur Verhinderung eines zu frühen Bekannt-
werdens wirksam zu sein; nimmt man aber, um dieser
Consequenz auszuweichen, lieber auch bei jenen nichtisraë-
litischen Völkern einen oftenbarenden Einfluſs Gottes an:
so löst sich der supranaturalistische Standpunkt auf, und
wir dürfen, da in den sich gegenseitig widerstreitenden
Religionen doch nicht Alles geoffenbart sein kann, kritisch
auswählend verfahren. Da werden wir es nun einer ge-
läuterten Idee von Gott keineswegs angemessen finden, ihn,
wie einen menschlichen König, von einem Hofstaat umge-
ben zu denken, und wenn Olshausen sich für die Realität
solcher Thronengel auf die vernünftigerweise anzunehmen-
de Stufenleiter der Wesen beruft 6), so wird hiemit nicht
die hebräische Vorstellung gerechtfertigt, sondern ihr eine
moderne untergeschoben. Man wäre also auf den Ausweg
hingetrieben, eine Accommodation von Seiten Gottes anzu-
nehmen, d. h. daſs er einen höheren Geist abgesendet habe
mit der Weisung, sich, um bei dem Vater des Täufers
Glauben zu finden, der jüdischen Vorstellung gemäſs, ei-
nen Rang und Titel beizulegen, die er eigentlich nicht
hatte. Da aber, wie sogleich der Erfolg zeigte, Zacharias
auch so dem Engel nicht glaubte, sondern erst dem Er-
folg: so war jene ganze Accommodation unnütz und kann

6) Biblischer Commentar, 1. Thl. S. 99. (2te Auflage).
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[82/0106] Erster Abschnitt. äusserst bedenklicher Fragen. Sind diese Vorstellungen, so lange sie noch bloſs bei auswärtigen Völkern waren, falsch gewesen, und erst, als sie zu den Juden über- giengen, wahr geworden? oder sind sie von jeher wahr gewesen, und haben also abgöttische Völker eine so hohe Wahrheit früher entdeckt, als das Volk Gottes? Waren jene Völker von besondrer göttlicher Offenbarung ausge- schlossen, kamen sie also durch ihre eigne Vernunft früher auf jene Entdeckung, als die Juden mittelst ihrer Offenba- rung: so scheint ja die Offenbarung überflüssig, oder nur negativ, d. h. zur Verhinderung eines zu frühen Bekannt- werdens wirksam zu sein; nimmt man aber, um dieser Consequenz auszuweichen, lieber auch bei jenen nichtisraë- litischen Völkern einen oftenbarenden Einfluſs Gottes an: so löst sich der supranaturalistische Standpunkt auf, und wir dürfen, da in den sich gegenseitig widerstreitenden Religionen doch nicht Alles geoffenbart sein kann, kritisch auswählend verfahren. Da werden wir es nun einer ge- läuterten Idee von Gott keineswegs angemessen finden, ihn, wie einen menschlichen König, von einem Hofstaat umge- ben zu denken, und wenn Olshausen sich für die Realität solcher Thronengel auf die vernünftigerweise anzunehmen- de Stufenleiter der Wesen beruft 6), so wird hiemit nicht die hebräische Vorstellung gerechtfertigt, sondern ihr eine moderne untergeschoben. Man wäre also auf den Ausweg hingetrieben, eine Accommodation von Seiten Gottes anzu- nehmen, d. h. daſs er einen höheren Geist abgesendet habe mit der Weisung, sich, um bei dem Vater des Täufers Glauben zu finden, der jüdischen Vorstellung gemäſs, ei- nen Rang und Titel beizulegen, die er eigentlich nicht hatte. Da aber, wie sogleich der Erfolg zeigte, Zacharias auch so dem Engel nicht glaubte, sondern erst dem Er- folg: so war jene ganze Accommodation unnütz und kann 6) Biblischer Commentar, 1. Thl. S. 99. (2te Auflage).

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/106>, abgerufen am 02.05.2024.