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Storm, Theodor: Ein Doppelgänger. Novelle. Berlin, 1887.

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- - - Mir kam allmählich das Bewußtsein, daß ich weit von meiner Vaterstadt im Oberförsterhause an dem offenen Fenster stehe; der Mond schien von drüben über dem Walde auf das Haus und aus den Wiesen hörte ich wieder das Schnarren des Wachtelkönigs. Ich zog meine Uhr: es war nach Eins! Das Licht auf dem Tische war tief herabgebrannt. In halbvisionärem Zustande - seit meiner Jugend haftete desgleichen an mir - hatte ich ein Menschenleben an mir vorübergehen sehn, dessen Ende, als es derzeit eintrat, auch mir ein Räthsel geblieben war. Jetzt kannte ich es plötzlich; deutlich sah ich die zusammengekauerte Todtengestalt des Unglücklichen in der unheimlichen Tiefe. Nachdem ich heute den Namen meiner Wirthin erfahren hatte, wußte ich jetzt auch: noch einmal aus der düsteren Gruft hatte seine lebendige Stimme ein lebendig Menschenohr erreicht; aber es war nur das eines vierzehnjährigen Knaben. Am Abend nach dem Verschwinden des Armen, da ich bei einer befreundeten Familie eingetreten war, kam der Sohn mit seinem Schmetterlingsketscher schreckensbleich ins Zimmer. "Es hat gespukt!"

– – – Mir kam allmählich das Bewußtsein, daß ich weit von meiner Vaterstadt im Oberförsterhause an dem offenen Fenster stehe; der Mond schien von drüben über dem Walde auf das Haus und aus den Wiesen hörte ich wieder das Schnarren des Wachtelkönigs. Ich zog meine Uhr: es war nach Eins! Das Licht auf dem Tische war tief herabgebrannt. In halbvisionärem Zustande – seit meiner Jugend haftete desgleichen an mir – hatte ich ein Menschenleben an mir vorübergehen sehn, dessen Ende, als es derzeit eintrat, auch mir ein Räthsel geblieben war. Jetzt kannte ich es plötzlich; deutlich sah ich die zusammengekauerte Todtengestalt des Unglücklichen in der unheimlichen Tiefe. Nachdem ich heute den Namen meiner Wirthin erfahren hatte, wußte ich jetzt auch: noch einmal aus der düsteren Gruft hatte seine lebendige Stimme ein lebendig Menschenohr erreicht; aber es war nur das eines vierzehnjährigen Knaben. Am Abend nach dem Verschwinden des Armen, da ich bei einer befreundeten Familie eingetreten war, kam der Sohn mit seinem Schmetterlingsketscher schreckensbleich ins Zimmer. „Es hat gespukt!“

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[116/0116] – – – Mir kam allmählich das Bewußtsein, daß ich weit von meiner Vaterstadt im Oberförsterhause an dem offenen Fenster stehe; der Mond schien von drüben über dem Walde auf das Haus und aus den Wiesen hörte ich wieder das Schnarren des Wachtelkönigs. Ich zog meine Uhr: es war nach Eins! Das Licht auf dem Tische war tief herabgebrannt. In halbvisionärem Zustande – seit meiner Jugend haftete desgleichen an mir – hatte ich ein Menschenleben an mir vorübergehen sehn, dessen Ende, als es derzeit eintrat, auch mir ein Räthsel geblieben war. Jetzt kannte ich es plötzlich; deutlich sah ich die zusammengekauerte Todtengestalt des Unglücklichen in der unheimlichen Tiefe. Nachdem ich heute den Namen meiner Wirthin erfahren hatte, wußte ich jetzt auch: noch einmal aus der düsteren Gruft hatte seine lebendige Stimme ein lebendig Menschenohr erreicht; aber es war nur das eines vierzehnjährigen Knaben. Am Abend nach dem Verschwinden des Armen, da ich bei einer befreundeten Familie eingetreten war, kam der Sohn mit seinem Schmetterlingsketscher schreckensbleich ins Zimmer. „Es hat gespukt!“

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Zitationshilfe: Storm, Theodor: Ein Doppelgänger. Novelle. Berlin, 1887, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_doppelgaenger_1887/116>, abgerufen am 24.11.2024.