Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

wenn Dir die Lust dazu abgeht. Ebenso wenn Du eine Sache
nicht mehr glauben kannst, so hast Du zum Glauben Dich
nicht zu zwingen oder als mit einer heiligen Glaubenswahr¬
heit Dich fortdauernd zu beschäftigen, wie es die Theologen
oder Philosophen machen, sondern kannst getrost dein Interesse
aus ihr zurückziehen und sie laufen lassen. Die pfäffischen
Geister werden Dir freilich diese Interesselosigkeit für "Faulheit,
Gedankenlosigkeit, Verstocktheit, Selbsttäuschung" u. dgl. aus¬
legen. Aber laß Du den Bettel nur dennoch liegen. Keine
Sache, kein sogenanntes "höchstes Interesse der Menschheit",
keine "heilige Sache" ist werth, daß Du ihr dienest, und um
ihretwillen Dich damit befassest; ihren Werth magst Du
allein darin suchen, ob sie Dir um Deinetwillen werth ist.
Werdet wie die Kinder, mahnt der biblische Spruch. Kinder
aber haben kein heiliges Interesse und wissen nichts von einer
"guten Sache". Desto genauer wissen sie, wonach ihnen der
Sinn steht, und wie sie dazu gelangen sollen, das bedenken
sie nach besten Kräften.

Das Denken wird so wenig als das Empfinden aufhören.
Aber die Macht der Gedanken und Ideen, die Herrschaft der
Theorien und Principien, die Oberherrlichkeit des Geistes, kurz
die -- Hierarchie währt so lange, als die Pfaffen, d. h.
Theologen, Philosophen, Staatsmänner, Philister, Liberale,
Schulmeister, Bedienten, Aeltern, Kinder, Eheleute, Proud'hon,
George Sand, Bluntschli u. s. w., u. s. w. das große Wort
führen: die Hierarchie wird dauern, so lange man an Princi¬
pien glaubt, denkt, oder auch sie kritisirt: denn selbst die un¬
erbittlichste Kritik, die alle geltenden Principien untergräbt,
glaubt schließlich doch an das Princip.

Es kritisirt Jeder, aber das Kriterium ist verschieden.

30*

wenn Dir die Luſt dazu abgeht. Ebenſo wenn Du eine Sache
nicht mehr glauben kannſt, ſo haſt Du zum Glauben Dich
nicht zu zwingen oder als mit einer heiligen Glaubenswahr¬
heit Dich fortdauernd zu beſchäftigen, wie es die Theologen
oder Philoſophen machen, ſondern kannſt getroſt dein Intereſſe
aus ihr zurückziehen und ſie laufen laſſen. Die pfäffiſchen
Geiſter werden Dir freilich dieſe Intereſſeloſigkeit für „Faulheit,
Gedankenloſigkeit, Verſtocktheit, Selbſttäuſchung“ u. dgl. aus¬
legen. Aber laß Du den Bettel nur dennoch liegen. Keine
Sache, kein ſogenanntes „höchſtes Intereſſe der Menſchheit“,
keine „heilige Sache“ iſt werth, daß Du ihr dieneſt, und um
ihretwillen Dich damit befaſſeſt; ihren Werth magſt Du
allein darin ſuchen, ob ſie Dir um Deinetwillen werth iſt.
Werdet wie die Kinder, mahnt der bibliſche Spruch. Kinder
aber haben kein heiliges Intereſſe und wiſſen nichts von einer
„guten Sache“. Deſto genauer wiſſen ſie, wonach ihnen der
Sinn ſteht, und wie ſie dazu gelangen ſollen, das bedenken
ſie nach beſten Kräften.

Das Denken wird ſo wenig als das Empfinden aufhören.
Aber die Macht der Gedanken und Ideen, die Herrſchaft der
Theorien und Principien, die Oberherrlichkeit des Geiſtes, kurz
die — Hierarchie währt ſo lange, als die Pfaffen, d. h.
Theologen, Philoſophen, Staatsmänner, Philiſter, Liberale,
Schulmeiſter, Bedienten, Aeltern, Kinder, Eheleute, Proud'hon,
George Sand, Bluntſchli u. ſ. w., u. ſ. w. das große Wort
führen: die Hierarchie wird dauern, ſo lange man an Princi¬
pien glaubt, denkt, oder auch ſie kritiſirt: denn ſelbſt die un¬
erbittlichſte Kritik, die alle geltenden Principien untergräbt,
glaubt ſchließlich doch an das Princip.

Es kritiſirt Jeder, aber das Kriterium iſt verſchieden.

30*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0475" n="467"/>
wenn Dir die Lu&#x017F;t dazu abgeht. Eben&#x017F;o wenn Du eine Sache<lb/>
nicht mehr <hi rendition="#g">glauben</hi> kann&#x017F;t, &#x017F;o ha&#x017F;t Du zum Glauben Dich<lb/>
nicht zu zwingen oder als mit einer heiligen Glaubenswahr¬<lb/>
heit Dich fortdauernd zu be&#x017F;chäftigen, wie es die Theologen<lb/>
oder Philo&#x017F;ophen machen, &#x017F;ondern kann&#x017F;t getro&#x017F;t dein Intere&#x017F;&#x017F;e<lb/>
aus ihr zurückziehen und &#x017F;ie laufen la&#x017F;&#x017F;en. Die pfäffi&#x017F;chen<lb/>
Gei&#x017F;ter werden Dir freilich die&#x017F;e Intere&#x017F;&#x017F;elo&#x017F;igkeit für &#x201E;Faulheit,<lb/>
Gedankenlo&#x017F;igkeit, Ver&#x017F;tocktheit, Selb&#x017F;ttäu&#x017F;chung&#x201C; u. dgl. aus¬<lb/>
legen. Aber laß Du den Bettel nur dennoch liegen. Keine<lb/>
Sache, kein &#x017F;ogenanntes &#x201E;höch&#x017F;tes Intere&#x017F;&#x017F;e der Men&#x017F;chheit&#x201C;,<lb/>
keine &#x201E;heilige Sache&#x201C; i&#x017F;t werth, daß Du ihr diene&#x017F;t, und um<lb/><hi rendition="#g">ihretwillen</hi> Dich damit befa&#x017F;&#x017F;e&#x017F;t; ihren Werth mag&#x017F;t Du<lb/>
allein darin &#x017F;uchen, ob &#x017F;ie <hi rendition="#g">Dir</hi> um Deinetwillen werth i&#x017F;t.<lb/>
Werdet wie die Kinder, mahnt der bibli&#x017F;che Spruch. Kinder<lb/>
aber haben kein heiliges Intere&#x017F;&#x017F;e und wi&#x017F;&#x017F;en nichts von einer<lb/>
&#x201E;guten Sache&#x201C;. De&#x017F;to genauer wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie, wonach ihnen der<lb/>
Sinn &#x017F;teht, und wie &#x017F;ie dazu gelangen &#x017F;ollen, das bedenken<lb/>
&#x017F;ie nach be&#x017F;ten Kräften.</p><lb/>
            <p>Das Denken wird &#x017F;o wenig als das Empfinden aufhören.<lb/>
Aber die Macht der Gedanken und Ideen, die Herr&#x017F;chaft der<lb/>
Theorien und Principien, die Oberherrlichkeit des Gei&#x017F;tes, kurz<lb/>
die &#x2014; <hi rendition="#g">Hierarchie</hi> währt &#x017F;o lange, als die Pfaffen, d. h.<lb/>
Theologen, Philo&#x017F;ophen, Staatsmänner, Phili&#x017F;ter, Liberale,<lb/>
Schulmei&#x017F;ter, Bedienten, Aeltern, Kinder, Eheleute, Proud'hon,<lb/>
George Sand, Blunt&#x017F;chli u. &#x017F;. w., u. &#x017F;. w. das große Wort<lb/>
führen: die Hierarchie wird dauern, &#x017F;o lange man an Princi¬<lb/>
pien glaubt, denkt, oder auch &#x017F;ie kriti&#x017F;irt: denn &#x017F;elb&#x017F;t die un¬<lb/>
erbittlich&#x017F;te Kritik, die alle geltenden Principien untergräbt,<lb/><hi rendition="#g">glaubt</hi> &#x017F;chließlich doch an <hi rendition="#g">das Princip</hi>.</p><lb/>
            <p>Es kriti&#x017F;irt Jeder, aber das Kriterium i&#x017F;t ver&#x017F;chieden.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">30*<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[467/0475] wenn Dir die Luſt dazu abgeht. Ebenſo wenn Du eine Sache nicht mehr glauben kannſt, ſo haſt Du zum Glauben Dich nicht zu zwingen oder als mit einer heiligen Glaubenswahr¬ heit Dich fortdauernd zu beſchäftigen, wie es die Theologen oder Philoſophen machen, ſondern kannſt getroſt dein Intereſſe aus ihr zurückziehen und ſie laufen laſſen. Die pfäffiſchen Geiſter werden Dir freilich dieſe Intereſſeloſigkeit für „Faulheit, Gedankenloſigkeit, Verſtocktheit, Selbſttäuſchung“ u. dgl. aus¬ legen. Aber laß Du den Bettel nur dennoch liegen. Keine Sache, kein ſogenanntes „höchſtes Intereſſe der Menſchheit“, keine „heilige Sache“ iſt werth, daß Du ihr dieneſt, und um ihretwillen Dich damit befaſſeſt; ihren Werth magſt Du allein darin ſuchen, ob ſie Dir um Deinetwillen werth iſt. Werdet wie die Kinder, mahnt der bibliſche Spruch. Kinder aber haben kein heiliges Intereſſe und wiſſen nichts von einer „guten Sache“. Deſto genauer wiſſen ſie, wonach ihnen der Sinn ſteht, und wie ſie dazu gelangen ſollen, das bedenken ſie nach beſten Kräften. Das Denken wird ſo wenig als das Empfinden aufhören. Aber die Macht der Gedanken und Ideen, die Herrſchaft der Theorien und Principien, die Oberherrlichkeit des Geiſtes, kurz die — Hierarchie währt ſo lange, als die Pfaffen, d. h. Theologen, Philoſophen, Staatsmänner, Philiſter, Liberale, Schulmeiſter, Bedienten, Aeltern, Kinder, Eheleute, Proud'hon, George Sand, Bluntſchli u. ſ. w., u. ſ. w. das große Wort führen: die Hierarchie wird dauern, ſo lange man an Princi¬ pien glaubt, denkt, oder auch ſie kritiſirt: denn ſelbſt die un¬ erbittlichſte Kritik, die alle geltenden Principien untergräbt, glaubt ſchließlich doch an das Princip. Es kritiſirt Jeder, aber das Kriterium iſt verſchieden. 30*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/475
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/475>, abgerufen am 09.05.2024.