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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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gen? Nein, eure großen und kleinen Gedanken gehören Mir,
und Ich behandle sie nach meinem Gefallen.

Eigen ist Mir der Gedanke erst, wenn Ich ihn jeden
Augenblick in Todesgefahr zu bringen kein Bedenken trage,
wenn Ich seinen Verlust nicht als einen Verlust für Mich,
einen Verlust Meiner, zu fürchten habe. Mein eigen ist der
Gedanke erst dann, wenn Ich zwar ihn, er aber niemals Mich
unterjochen kann, nie Mich fanatisirt, zum Werkzeug seiner
Realisation macht.

Also Gedankenfreiheit existirt, wenn Ich alle möglichen
Gedanken haben kann; Eigenthum aber werden die Gedanken
erst dadurch, daß sie nicht zu Herren werden können. In der
Zeit der Gedankenfreiheit herrschen Gedanken (Ideen); bringe
Ich's aber zum Gedankeneigenthum, so verhalten sie sich als
meine Creaturen.

Wäre die Hierarchie nicht so ins Innere gedrungen, daß
sie den Menschen allen Muth benahm, freie, d.h. Gott viel¬
leicht mißfällige Gedanken zu verfolgen, so müßte man Ge¬
dankenfreiheit für ein ebenso leeres Wort ansehen, wie etwa
eine Verdauungsfreiheit.

Nach der Meinung der Zünftigen wird Mir der Gedanke
gegeben, nach der der Freidenker suche Ich den Gedanken.
Dort ist die Wahrheit bereits gefunden und vorhanden, nur
muß Ich sie vom Geber derselben durch Gnade -- empfangen;
hier ist die Wahrheit zu suchen und mein in der Zukunft lie¬
gendes Ziel, nach welchem Ich zu rennen habe.

In beiden Fällen liegt die Wahrheit (der wahre Gedanke)
außer Mir, und Ich trachte ihn zu bekommen, sei es durch
Geschenk (Gnade), sei es durch Erwerb (eigenes Verdienst).
Also 1) Die Wahrheit ist ein Privilegium, 2) Nein, der

gen? Nein, eure großen und kleinen Gedanken gehören Mir,
und Ich behandle ſie nach meinem Gefallen.

Eigen iſt Mir der Gedanke erſt, wenn Ich ihn jeden
Augenblick in Todesgefahr zu bringen kein Bedenken trage,
wenn Ich ſeinen Verluſt nicht als einen Verluſt für Mich,
einen Verluſt Meiner, zu fürchten habe. Mein eigen iſt der
Gedanke erſt dann, wenn Ich zwar ihn, er aber niemals Mich
unterjochen kann, nie Mich fanatiſirt, zum Werkzeug ſeiner
Realiſation macht.

Alſo Gedankenfreiheit exiſtirt, wenn Ich alle möglichen
Gedanken haben kann; Eigenthum aber werden die Gedanken
erſt dadurch, daß ſie nicht zu Herren werden können. In der
Zeit der Gedankenfreiheit herrſchen Gedanken (Ideen); bringe
Ich's aber zum Gedankeneigenthum, ſo verhalten ſie ſich als
meine Creaturen.

Wäre die Hierarchie nicht ſo ins Innere gedrungen, daß
ſie den Menſchen allen Muth benahm, freie, d.h. Gott viel¬
leicht mißfällige Gedanken zu verfolgen, ſo müßte man Ge¬
dankenfreiheit für ein ebenſo leeres Wort anſehen, wie etwa
eine Verdauungsfreiheit.

Nach der Meinung der Zünftigen wird Mir der Gedanke
gegeben, nach der der Freidenker ſuche Ich den Gedanken.
Dort iſt die Wahrheit bereits gefunden und vorhanden, nur
muß Ich ſie vom Geber derſelben durch Gnade — empfangen;
hier iſt die Wahrheit zu ſuchen und mein in der Zukunft lie¬
gendes Ziel, nach welchem Ich zu rennen habe.

In beiden Fällen liegt die Wahrheit (der wahre Gedanke)
außer Mir, und Ich trachte ihn zu bekommen, ſei es durch
Geſchenk (Gnade), ſei es durch Erwerb (eigenes Verdienſt).
Alſo 1) Die Wahrheit iſt ein Privilegium, 2) Nein, der

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[458/0466] gen? Nein, eure großen und kleinen Gedanken gehören Mir, und Ich behandle ſie nach meinem Gefallen. Eigen iſt Mir der Gedanke erſt, wenn Ich ihn jeden Augenblick in Todesgefahr zu bringen kein Bedenken trage, wenn Ich ſeinen Verluſt nicht als einen Verluſt für Mich, einen Verluſt Meiner, zu fürchten habe. Mein eigen iſt der Gedanke erſt dann, wenn Ich zwar ihn, er aber niemals Mich unterjochen kann, nie Mich fanatiſirt, zum Werkzeug ſeiner Realiſation macht. Alſo Gedankenfreiheit exiſtirt, wenn Ich alle möglichen Gedanken haben kann; Eigenthum aber werden die Gedanken erſt dadurch, daß ſie nicht zu Herren werden können. In der Zeit der Gedankenfreiheit herrſchen Gedanken (Ideen); bringe Ich's aber zum Gedankeneigenthum, ſo verhalten ſie ſich als meine Creaturen. Wäre die Hierarchie nicht ſo ins Innere gedrungen, daß ſie den Menſchen allen Muth benahm, freie, d.h. Gott viel¬ leicht mißfällige Gedanken zu verfolgen, ſo müßte man Ge¬ dankenfreiheit für ein ebenſo leeres Wort anſehen, wie etwa eine Verdauungsfreiheit. Nach der Meinung der Zünftigen wird Mir der Gedanke gegeben, nach der der Freidenker ſuche Ich den Gedanken. Dort iſt die Wahrheit bereits gefunden und vorhanden, nur muß Ich ſie vom Geber derſelben durch Gnade — empfangen; hier iſt die Wahrheit zu ſuchen und mein in der Zukunft lie¬ gendes Ziel, nach welchem Ich zu rennen habe. In beiden Fällen liegt die Wahrheit (der wahre Gedanke) außer Mir, und Ich trachte ihn zu bekommen, ſei es durch Geſchenk (Gnade), ſei es durch Erwerb (eigenes Verdienſt). Alſo 1) Die Wahrheit iſt ein Privilegium, 2) Nein, der

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/466>, abgerufen am 23.11.2024.