Weg zu ihr ist Allen patent, und weder die Bibel, noch der heilige Vater, oder die Kirche oder wer sonst ist im Besitz der Wahrheit: aber man kann ihren Besitz -- erspeculiren.
Beide, das sieht man, sind eigenthumslos in Be¬ ziehung auf die Wahrheit: sie haben sie entweder als Lehen (denn der "heilige Vater" z. B. ist kein Einziger; als Ein¬ ziger ist er dieser Sixtus, Clemens u. s. w., aber als Sixtus, Clemens u. s. w. hat er die Wahrheit nicht, sondern als "heiliger Vater", d. h. als ein Geist), oder als Ideal. Als Lehen ist sie nur für Wenige (Privilegirte), als Ideal für Alle (Patentirte).
Gedankenfreiheit hat also den Sinn, daß Wir zwar alle im Dunkel und aus den Wegen des Irrthums wandeln, Je¬ der aber auf diesem Wege sich der Wahrheit nähern könne und mithin auf dem rechten Wege sei ("Jede Straße führt nach Rom, an's Ende der Welt u. s. w."). Gedankenfreiheit bedeutet daher so viel, daß Mir der wahre Gedanke nicht eigen sei; denn wäre er dieß, wie wollte man Mich von ihm abschließen?
Das Denken ist ganz frei geworden, und hat eine Menge von Wahrheiten aufgestellt, denen Ich Mich fügen muß. Es sucht sich zu einem System zu vollenden und zu einer abso¬ luten "Verfassung" zu bringen. Im Staate z. B. sucht es etwa nach der Idee so lange, bis es den "Vernunft-Staat" herausgebracht hat, in welchem Ich Mir's dann recht sein lassen muß; im Menschen (der Anthropologie) so lange, bis es "den Menschen gefunden hat".
Der Denkende unterscheidet sich vom Glaubenden nur da¬ durch, daß er viel mehr glaubt als dieser, der sich seinerseits bei seinem Glauben (Glaubensartikel) viel weniger denkt. Der Denkende hat tausend Glaubenssätze, wo der Gläubige
Weg zu ihr iſt Allen patent, und weder die Bibel, noch der heilige Vater, oder die Kirche oder wer ſonſt iſt im Beſitz der Wahrheit: aber man kann ihren Beſitz — erſpeculiren.
Beide, das ſieht man, ſind eigenthumslos in Be¬ ziehung auf die Wahrheit: ſie haben ſie entweder als Lehen (denn der „heilige Vater“ z. B. iſt kein Einziger; als Ein¬ ziger iſt er dieſer Sixtus, Clemens u. ſ. w., aber als Sixtus, Clemens u. ſ. w. hat er die Wahrheit nicht, ſondern als „heiliger Vater“, d. h. als ein Geiſt), oder als Ideal. Als Lehen iſt ſie nur für Wenige (Privilegirte), als Ideal für Alle (Patentirte).
Gedankenfreiheit hat alſo den Sinn, daß Wir zwar alle im Dunkel und aus den Wegen des Irrthums wandeln, Je¬ der aber auf dieſem Wege ſich der Wahrheit nähern könne und mithin auf dem rechten Wege ſei („Jede Straße führt nach Rom, an's Ende der Welt u. ſ. w.“). Gedankenfreiheit bedeutet daher ſo viel, daß Mir der wahre Gedanke nicht eigen ſei; denn wäre er dieß, wie wollte man Mich von ihm abſchließen?
Das Denken iſt ganz frei geworden, und hat eine Menge von Wahrheiten aufgeſtellt, denen Ich Mich fügen muß. Es ſucht ſich zu einem Syſtem zu vollenden und zu einer abſo¬ luten „Verfaſſung“ zu bringen. Im Staate z. B. ſucht es etwa nach der Idee ſo lange, bis es den „Vernunft-Staat“ herausgebracht hat, in welchem Ich Mir's dann recht ſein laſſen muß; im Menſchen (der Anthropologie) ſo lange, bis es „den Menſchen gefunden hat“.
Der Denkende unterſcheidet ſich vom Glaubenden nur da¬ durch, daß er viel mehr glaubt als dieſer, der ſich ſeinerſeits bei ſeinem Glauben (Glaubensartikel) viel weniger denkt. Der Denkende hat tauſend Glaubensſätze, wo der Gläubige
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Weg zu ihr iſt Allen patent, und weder die Bibel, noch der
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Beide, das ſieht man, ſind eigenthumslos in Be¬
ziehung auf die Wahrheit: ſie haben ſie entweder als Lehen
(denn der „heilige Vater“ z. B. iſt kein Einziger; als Ein¬
ziger iſt er dieſer Sixtus, Clemens u. ſ. w., aber als Sixtus,
Clemens u. ſ. w. hat er die Wahrheit nicht, ſondern als
„heiliger Vater“, d. h. als ein Geiſt), oder als Ideal. Als
Lehen iſt ſie nur für Wenige (Privilegirte), als Ideal für
Alle (Patentirte).
Gedankenfreiheit hat alſo den Sinn, daß Wir zwar alle
im Dunkel und aus den Wegen des Irrthums wandeln, Je¬
der aber auf dieſem Wege ſich der Wahrheit nähern könne
und mithin auf dem rechten Wege ſei („Jede Straße führt nach
Rom, an's Ende der Welt u. ſ. w.“). Gedankenfreiheit bedeutet
daher ſo viel, daß Mir der wahre Gedanke nicht eigen ſei;
denn wäre er dieß, wie wollte man Mich von ihm abſchließen?
Das Denken iſt ganz frei geworden, und hat eine Menge
von Wahrheiten aufgeſtellt, denen Ich Mich fügen muß. Es
ſucht ſich zu einem Syſtem zu vollenden und zu einer abſo¬
luten „Verfaſſung“ zu bringen. Im Staate z. B. ſucht es
etwa nach der Idee ſo lange, bis es den „Vernunft-Staat“
herausgebracht hat, in welchem Ich Mir's dann recht ſein
laſſen muß; im Menſchen (der Anthropologie) ſo lange, bis
es „den Menſchen gefunden hat“.
Der Denkende unterſcheidet ſich vom Glaubenden nur da¬
durch, daß er viel mehr glaubt als dieſer, der ſich ſeinerſeits
bei ſeinem Glauben (Glaubensartikel) viel weniger denkt.
Der Denkende hat tauſend Glaubensſätze, wo der Gläubige
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/467>, abgerufen am 27.11.2024.
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