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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Ich werde nach diesen Begriffsgesetzen zu leben gezwungen.
Kann es eine ärgere Gesetzesherrschaft geben, und hat nicht
das Christenthum gleich im Beginne zugestanden, daß es die
Gesetzesherrschaft des Judenthums nur schärfer anziehen wolle?
("Nicht ein Buchstabe des Gesetzes soll verloren gehen!")

Durch den Liberalismus wurden nur andere Begriffe aufs
Tapet gebracht, nämlich statt der göttlichen menschliche, statt
der kirchlichen staatliche, statt der gläubigen "wissenschaftliche"
oder allgemeiner statt der "rohen Sätze" und Satzungen wirk¬
liche Begriffe und ewige Gesetze.

Jetzt herrscht in der Welt nichts als der Geist. Eine
unzählige Menge von Begriffen schwirren in den Köpfen um¬
her, und was thun die Weiterstrebenden? Sie negiren diese
Begriffe, um neue an deren Stelle zu bringen! Sie sagen:
Ihr macht Euch einen falschen Begriff vom Rechte, vom
Staate, vom Menschen, von der Freiheit, von der Wahrheit,
von der Ehe u. s. w.; der Begriff des Rechts u. s. w. ist
vielmehr derjenige, den Wir jetzt aufstellen. So schreitet die
Begriffsverwirrung vorwärts.

Die Weltgeschichte ist mit Uns grausam umgegangen,
und der Geist hat eine allmächtige Gewalt errungen. Du
mußt Meine elenden Schuhe achten, die Deinen nackten Fuß
schützen könnten, mein Salz, wodurch Deine Kartoffeln genie߬
bar würden, und meine Prunkkarosse, deren Besitz Dir alle
Noth auf einmal abnähme: Du darfst nicht darnach langen.
Von alle dem und unzähligem Anderen soll der Mensch die
Selbstständigkeit anerkennen, es soll ihm für unergreifbar
und unnahbar gelten, soll ihm entzogen sein. Er muß es
achten, respektiren; wehe ihm, wenn er begehrend seine Finger
ausstreckt: Wir nennen das "lange Finger machen"!

Ich werde nach dieſen Begriffsgeſetzen zu leben gezwungen.
Kann es eine ärgere Geſetzesherrſchaft geben, und hat nicht
das Chriſtenthum gleich im Beginne zugeſtanden, daß es die
Geſetzesherrſchaft des Judenthums nur ſchärfer anziehen wolle?
(„Nicht ein Buchſtabe des Geſetzes ſoll verloren gehen!“)

Durch den Liberalismus wurden nur andere Begriffe aufs
Tapet gebracht, nämlich ſtatt der göttlichen menſchliche, ſtatt
der kirchlichen ſtaatliche, ſtatt der gläubigen „wiſſenſchaftliche“
oder allgemeiner ſtatt der „rohen Sätze“ und Satzungen wirk¬
liche Begriffe und ewige Geſetze.

Jetzt herrſcht in der Welt nichts als der Geiſt. Eine
unzählige Menge von Begriffen ſchwirren in den Köpfen um¬
her, und was thun die Weiterſtrebenden? Sie negiren dieſe
Begriffe, um neue an deren Stelle zu bringen! Sie ſagen:
Ihr macht Euch einen falſchen Begriff vom Rechte, vom
Staate, vom Menſchen, von der Freiheit, von der Wahrheit,
von der Ehe u. ſ. w.; der Begriff des Rechts u. ſ. w. iſt
vielmehr derjenige, den Wir jetzt aufſtellen. So ſchreitet die
Begriffsverwirrung vorwärts.

Die Weltgeſchichte iſt mit Uns grauſam umgegangen,
und der Geiſt hat eine allmächtige Gewalt errungen. Du
mußt Meine elenden Schuhe achten, die Deinen nackten Fuß
ſchützen könnten, mein Salz, wodurch Deine Kartoffeln genie߬
bar würden, und meine Prunkkaroſſe, deren Beſitz Dir alle
Noth auf einmal abnähme: Du darfſt nicht darnach langen.
Von alle dem und unzähligem Anderen ſoll der Menſch die
Selbſtſtändigkeit anerkennen, es ſoll ihm für unergreifbar
und unnahbar gelten, ſoll ihm entzogen ſein. Er muß es
achten, reſpektiren; wehe ihm, wenn er begehrend ſeine Finger
ausſtreckt: Wir nennen das „lange Finger machen“!

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[127/0135] Ich werde nach dieſen Begriffsgeſetzen zu leben gezwungen. Kann es eine ärgere Geſetzesherrſchaft geben, und hat nicht das Chriſtenthum gleich im Beginne zugeſtanden, daß es die Geſetzesherrſchaft des Judenthums nur ſchärfer anziehen wolle? („Nicht ein Buchſtabe des Geſetzes ſoll verloren gehen!“) Durch den Liberalismus wurden nur andere Begriffe aufs Tapet gebracht, nämlich ſtatt der göttlichen menſchliche, ſtatt der kirchlichen ſtaatliche, ſtatt der gläubigen „wiſſenſchaftliche“ oder allgemeiner ſtatt der „rohen Sätze“ und Satzungen wirk¬ liche Begriffe und ewige Geſetze. Jetzt herrſcht in der Welt nichts als der Geiſt. Eine unzählige Menge von Begriffen ſchwirren in den Köpfen um¬ her, und was thun die Weiterſtrebenden? Sie negiren dieſe Begriffe, um neue an deren Stelle zu bringen! Sie ſagen: Ihr macht Euch einen falſchen Begriff vom Rechte, vom Staate, vom Menſchen, von der Freiheit, von der Wahrheit, von der Ehe u. ſ. w.; der Begriff des Rechts u. ſ. w. iſt vielmehr derjenige, den Wir jetzt aufſtellen. So ſchreitet die Begriffsverwirrung vorwärts. Die Weltgeſchichte iſt mit Uns grauſam umgegangen, und der Geiſt hat eine allmächtige Gewalt errungen. Du mußt Meine elenden Schuhe achten, die Deinen nackten Fuß ſchützen könnten, mein Salz, wodurch Deine Kartoffeln genie߬ bar würden, und meine Prunkkaroſſe, deren Beſitz Dir alle Noth auf einmal abnähme: Du darfſt nicht darnach langen. Von alle dem und unzähligem Anderen ſoll der Menſch die Selbſtſtändigkeit anerkennen, es ſoll ihm für unergreifbar und unnahbar gelten, ſoll ihm entzogen ſein. Er muß es achten, reſpektiren; wehe ihm, wenn er begehrend ſeine Finger ausſtreckt: Wir nennen das „lange Finger machen“!

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/135>, abgerufen am 28.03.2024.