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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Wie so bettelhaft wenig ist Uns verblieben, ja wie so
gar nichts! Alles ist entrückt worden, an nichts dürfen Wir
Uns wagen, wenn es Uns nicht gegeben wird: Wir leben
nur noch von der Gnade des Gebers. Nicht eine Nadel
darfst Du aufheben, es sei denn, Du habest Dir die Erlaub¬
niß geholt, daß Du es dürfest. Und geholt von wem?
Vom Respecte! Nur wenn er sie Dir überläßt als Eigen¬
thum, nur wenn Du sie als Eigenthum respectiren kannst,
nur dann darfst Du sie nehmen. Und wiederum sollst Du
keinen Gedanken fassen, keine Silbe sprechen, keine Handlung
begehen, die ihre Gewähr allein in Dir hätten, statt sie von
der Sittlichkeit oder der Vernunft oder der Menschlichkeit zu
empfangen. Glückliche Unbefangenheit des begehrlichen
Menschen, wie unbarmherzig hat man Dich an dem Altare der
Befangenheit zu schlachten gesucht!

Um den Altar aber wölbt sich eine Kirche, und ihre
Mauern rücken immer weiter hinaus. Was sie einschließen,
ist -- heilig. Du kannst nicht mehr dazu gelangen, kannst
es nicht mehr berühren. Aufschreiend in verzehrendem Hunger
schweifst Du um diese Mauern herum, das wenige Profane
aufzusuchen, und immer ausgedehnter werden die Kreise Deines
Laufes. Bald umspannt jene Kirche die ganze Erde, und Du
bist zum äußersten Rande hinausgetrieben; noch ein Schritt,
und die Welt des Heiligen hat gesiegt: Du versinkst in
den Abgrund. Darum ermanne Dich, dieweil es noch Zeit ist,
irre nicht länger umher im abgegrasten Profanen, wage den
Sprung und stürze hinein durch die Pforten in das Heiligthum
selber. Wenn Du das Heilige verzehrst, hast Du's zum
Eigenen gemacht! Verdaue die Hostie und Du bist sie los!


Wie ſo bettelhaft wenig iſt Uns verblieben, ja wie ſo
gar nichts! Alles iſt entrückt worden, an nichts dürfen Wir
Uns wagen, wenn es Uns nicht gegeben wird: Wir leben
nur noch von der Gnade des Gebers. Nicht eine Nadel
darfſt Du aufheben, es ſei denn, Du habeſt Dir die Erlaub¬
niß geholt, daß Du es dürfeſt. Und geholt von wem?
Vom Reſpecte! Nur wenn er ſie Dir überläßt als Eigen¬
thum, nur wenn Du ſie als Eigenthum reſpectiren kannſt,
nur dann darfſt Du ſie nehmen. Und wiederum ſollſt Du
keinen Gedanken faſſen, keine Silbe ſprechen, keine Handlung
begehen, die ihre Gewähr allein in Dir hätten, ſtatt ſie von
der Sittlichkeit oder der Vernunft oder der Menſchlichkeit zu
empfangen. Glückliche Unbefangenheit des begehrlichen
Menſchen, wie unbarmherzig hat man Dich an dem Altare der
Befangenheit zu ſchlachten geſucht!

Um den Altar aber wölbt ſich eine Kirche, und ihre
Mauern rücken immer weiter hinaus. Was ſie einſchließen,
iſt — heilig. Du kannſt nicht mehr dazu gelangen, kannſt
es nicht mehr berühren. Aufſchreiend in verzehrendem Hunger
ſchweifſt Du um dieſe Mauern herum, das wenige Profane
aufzuſuchen, und immer ausgedehnter werden die Kreiſe Deines
Laufes. Bald umſpannt jene Kirche die ganze Erde, und Du
biſt zum äußerſten Rande hinausgetrieben; noch ein Schritt,
und die Welt des Heiligen hat geſiegt: Du verſinkſt in
den Abgrund. Darum ermanne Dich, dieweil es noch Zeit iſt,
irre nicht länger umher im abgegraſten Profanen, wage den
Sprung und ſtürze hinein durch die Pforten in das Heiligthum
ſelber. Wenn Du das Heilige verzehrſt, haſt Du's zum
Eigenen gemacht! Verdaue die Hoſtie und Du biſt ſie los!


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[128/0136] Wie ſo bettelhaft wenig iſt Uns verblieben, ja wie ſo gar nichts! Alles iſt entrückt worden, an nichts dürfen Wir Uns wagen, wenn es Uns nicht gegeben wird: Wir leben nur noch von der Gnade des Gebers. Nicht eine Nadel darfſt Du aufheben, es ſei denn, Du habeſt Dir die Erlaub¬ niß geholt, daß Du es dürfeſt. Und geholt von wem? Vom Reſpecte! Nur wenn er ſie Dir überläßt als Eigen¬ thum, nur wenn Du ſie als Eigenthum reſpectiren kannſt, nur dann darfſt Du ſie nehmen. Und wiederum ſollſt Du keinen Gedanken faſſen, keine Silbe ſprechen, keine Handlung begehen, die ihre Gewähr allein in Dir hätten, ſtatt ſie von der Sittlichkeit oder der Vernunft oder der Menſchlichkeit zu empfangen. Glückliche Unbefangenheit des begehrlichen Menſchen, wie unbarmherzig hat man Dich an dem Altare der Befangenheit zu ſchlachten geſucht! Um den Altar aber wölbt ſich eine Kirche, und ihre Mauern rücken immer weiter hinaus. Was ſie einſchließen, iſt — heilig. Du kannſt nicht mehr dazu gelangen, kannſt es nicht mehr berühren. Aufſchreiend in verzehrendem Hunger ſchweifſt Du um dieſe Mauern herum, das wenige Profane aufzuſuchen, und immer ausgedehnter werden die Kreiſe Deines Laufes. Bald umſpannt jene Kirche die ganze Erde, und Du biſt zum äußerſten Rande hinausgetrieben; noch ein Schritt, und die Welt des Heiligen hat geſiegt: Du verſinkſt in den Abgrund. Darum ermanne Dich, dieweil es noch Zeit iſt, irre nicht länger umher im abgegraſten Profanen, wage den Sprung und ſtürze hinein durch die Pforten in das Heiligthum ſelber. Wenn Du das Heilige verzehrſt, haſt Du's zum Eigenen gemacht! Verdaue die Hoſtie und Du biſt ſie los!

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/136>, abgerufen am 19.04.2024.