denn es ist nichts Seltenes, daß man auch noch spät in der Nacht aus irgend einem Hause unserer Stadt Musik hört; aber das Flötenspiel war so sonderbar, daß wir länger stehen blieben. Es war nicht ein aus¬ gezeichnetes Spiel, es war nicht ganz stümperhaft, aber was die Aufmerksamkeit so erregte, war, daß es von allem abwich, was man gewöhnlich Musik nennt, und wie man sie lernt. Es hatte keine uns bekannte Weise zum Gegenstande, wahrscheinlich sprach der Spieler seine eigenen Gedanken aus, und wenn es auch nicht seine eigenen Gedanken waren, so gab er doch jedenfalls so viel hinzu, daß man es als solche betrachten konnte. Was am meisten reizte, war, daß, wenn er einen Gang angenommen, und das Ohr verleitet hatte, mit zu gehen, immer etwas anderes kam, als was man erwartete, und das Recht hatte, zu erwarten, so daß man stets von vorne an¬ fangen, und mitgehen mußte, und endlich in eine Verwirrung gerieth, die man beinahe irrsinnig hätte nennen können. Und dennoch war troz des Unzusam¬ menhanges eine Trauer und eine Klage und noch etwas Fremdartiges in dem Spiele, als erzählte der Spieler in ungefügen Mitteln seinen Kummer. Man war beinahe gerührt.
"Das ist sonderbar," sagte mein Gatte, "Der muß
Stifter, Jugendschriften. I. 15
denn es iſt nichts Seltenes, daß man auch noch ſpät in der Nacht aus irgend einem Hauſe unſerer Stadt Muſik hört; aber das Flötenſpiel war ſo ſonderbar, daß wir länger ſtehen blieben. Es war nicht ein aus¬ gezeichnetes Spiel, es war nicht ganz ſtümperhaft, aber was die Aufmerkſamkeit ſo erregte, war, daß es von allem abwich, was man gewöhnlich Muſik nennt, und wie man ſie lernt. Es hatte keine uns bekannte Weiſe zum Gegenſtande, wahrſcheinlich ſprach der Spieler ſeine eigenen Gedanken aus, und wenn es auch nicht ſeine eigenen Gedanken waren, ſo gab er doch jedenfalls ſo viel hinzu, daß man es als ſolche betrachten konnte. Was am meiſten reizte, war, daß, wenn er einen Gang angenommen, und das Ohr verleitet hatte, mit zu gehen, immer etwas anderes kam, als was man erwartete, und das Recht hatte, zu erwarten, ſo daß man ſtets von vorne an¬ fangen, und mitgehen mußte, und endlich in eine Verwirrung gerieth, die man beinahe irrſinnig hätte nennen können. Und dennoch war troz des Unzuſam¬ menhanges eine Trauer und eine Klage und noch etwas Fremdartiges in dem Spiele, als erzählte der Spieler in ungefügen Mitteln ſeinen Kummer. Man war beinahe gerührt.
„Das iſt ſonderbar,“ ſagte mein Gatte, „Der muß
Stifter, Jugendſchriften. I. 15
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0238"n="225"/>
denn es iſt nichts Seltenes, daß man auch noch ſpät<lb/>
in der Nacht aus irgend einem Hauſe unſerer Stadt<lb/>
Muſik hört; aber das Flötenſpiel war ſo ſonderbar,<lb/>
daß wir länger ſtehen blieben. Es war nicht ein aus¬<lb/>
gezeichnetes Spiel, es war nicht ganz ſtümperhaft,<lb/>
aber was die Aufmerkſamkeit ſo erregte, war, daß<lb/>
es von allem abwich, was man gewöhnlich Muſik<lb/>
nennt, und wie man ſie lernt. Es hatte keine uns<lb/>
bekannte Weiſe zum Gegenſtande, wahrſcheinlich<lb/>ſprach der Spieler ſeine eigenen Gedanken aus, und<lb/>
wenn es auch nicht ſeine eigenen Gedanken waren, ſo<lb/>
gab er doch jedenfalls ſo viel hinzu, daß man es als<lb/>ſolche betrachten konnte. Was am meiſten reizte, war,<lb/>
daß, wenn er einen Gang angenommen, und das<lb/>
Ohr verleitet hatte, mit zu gehen, immer etwas<lb/>
anderes kam, als was man erwartete, und das Recht<lb/>
hatte, zu erwarten, ſo daß man ſtets von vorne an¬<lb/>
fangen, und mitgehen mußte, und endlich in eine<lb/>
Verwirrung gerieth, die man beinahe irrſinnig hätte<lb/>
nennen können. Und dennoch war troz des Unzuſam¬<lb/>
menhanges eine Trauer und eine Klage und noch<lb/>
etwas Fremdartiges in dem Spiele, als erzählte der<lb/>
Spieler in ungefügen Mitteln ſeinen Kummer. Man<lb/>
war beinahe gerührt.</p><lb/><p>„Das iſt ſonderbar,“ſagte mein Gatte, „Der muß<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Stifter, Jugendſchriften. I. 15<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[225/0238]
denn es iſt nichts Seltenes, daß man auch noch ſpät
in der Nacht aus irgend einem Hauſe unſerer Stadt
Muſik hört; aber das Flötenſpiel war ſo ſonderbar,
daß wir länger ſtehen blieben. Es war nicht ein aus¬
gezeichnetes Spiel, es war nicht ganz ſtümperhaft,
aber was die Aufmerkſamkeit ſo erregte, war, daß
es von allem abwich, was man gewöhnlich Muſik
nennt, und wie man ſie lernt. Es hatte keine uns
bekannte Weiſe zum Gegenſtande, wahrſcheinlich
ſprach der Spieler ſeine eigenen Gedanken aus, und
wenn es auch nicht ſeine eigenen Gedanken waren, ſo
gab er doch jedenfalls ſo viel hinzu, daß man es als
ſolche betrachten konnte. Was am meiſten reizte, war,
daß, wenn er einen Gang angenommen, und das
Ohr verleitet hatte, mit zu gehen, immer etwas
anderes kam, als was man erwartete, und das Recht
hatte, zu erwarten, ſo daß man ſtets von vorne an¬
fangen, und mitgehen mußte, und endlich in eine
Verwirrung gerieth, die man beinahe irrſinnig hätte
nennen können. Und dennoch war troz des Unzuſam¬
menhanges eine Trauer und eine Klage und noch
etwas Fremdartiges in dem Spiele, als erzählte der
Spieler in ungefügen Mitteln ſeinen Kummer. Man
war beinahe gerührt.
„Das iſt ſonderbar,“ ſagte mein Gatte, „Der muß
Stifter, Jugendſchriften. I. 15
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stifter, Adalbert: Bunte Steine. Bd. 1. Pest u. a., 1853, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_steine01_1853/238>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.