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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

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Nacken niederging, schnitt diesen mit einem flüchtigen
Schatten, der das Licht noch lieblicher machte. Die
Stirne war rein, und es ist begreiflich, daß man nur
aus Marmor so etwas machen kann. Ich habe nicht
gewußt, daß eine menschliche Stirne so schön ist. Sie
schien mir unschuldvoll zu sein, und doch der Siz von
erhabenen Gedanken. Unter diesem Throne war die
klare Wange ruhig und ernst, dann der Mund, so
feingebildet, als sollte er verständige Worte sagen,
oder schöne Lieder singen, und als sollte er doch so
gütig sein. Das Ganze schloß das Kinn wie ein ruhi¬
ges Maß. Daß sich die Gestalt nicht regte, schien blos
in dem strengen bedeutungsvollen Himmel zu liegen,
der mit den fernen stehenden Gewittern über das Glas¬
dach gespannt war, und zur Betrachtung einlud. Edle
Schatten wie schöne Hauche hoben den sanften Glanz
der Brust, und dann waren Gewänder bis an die
Knöchel hinunter. Ich dachte an Nausikae, wie sie an
der Pforte des goldenen Saales stand, und zu Odys¬
seus die Worte sagte: "Fremdling, wenn du in dein
Land kömmst, so gedenke meiner." Der eine Arm war
gesenkt, und hielt in den Fingern ein kleines Stäb¬
chen, der andere war in der Gewandung zum Theile
verhüllt, die er ein wenig emporhob. Das Kleid war

Nacken niederging, ſchnitt dieſen mit einem flüchtigen
Schatten, der das Licht noch lieblicher machte. Die
Stirne war rein, und es iſt begreiflich, daß man nur
aus Marmor ſo etwas machen kann. Ich habe nicht
gewußt, daß eine menſchliche Stirne ſo ſchön iſt. Sie
ſchien mir unſchuldvoll zu ſein, und doch der Siz von
erhabenen Gedanken. Unter dieſem Throne war die
klare Wange ruhig und ernſt, dann der Mund, ſo
feingebildet, als ſollte er verſtändige Worte ſagen,
oder ſchöne Lieder ſingen, und als ſollte er doch ſo
gütig ſein. Das Ganze ſchloß das Kinn wie ein ruhi¬
ges Maß. Daß ſich die Geſtalt nicht regte, ſchien blos
in dem ſtrengen bedeutungsvollen Himmel zu liegen,
der mit den fernen ſtehenden Gewittern über das Glas¬
dach geſpannt war, und zur Betrachtung einlud. Edle
Schatten wie ſchöne Hauche hoben den ſanften Glanz
der Bruſt, und dann waren Gewänder bis an die
Knöchel hinunter. Ich dachte an Nauſikae, wie ſie an
der Pforte des goldenen Saales ſtand, und zu Odyſ¬
ſeus die Worte ſagte: „Fremdling, wenn du in dein
Land kömmſt, ſo gedenke meiner.“ Der eine Arm war
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[105/0119] Nacken niederging, ſchnitt dieſen mit einem flüchtigen Schatten, der das Licht noch lieblicher machte. Die Stirne war rein, und es iſt begreiflich, daß man nur aus Marmor ſo etwas machen kann. Ich habe nicht gewußt, daß eine menſchliche Stirne ſo ſchön iſt. Sie ſchien mir unſchuldvoll zu ſein, und doch der Siz von erhabenen Gedanken. Unter dieſem Throne war die klare Wange ruhig und ernſt, dann der Mund, ſo feingebildet, als ſollte er verſtändige Worte ſagen, oder ſchöne Lieder ſingen, und als ſollte er doch ſo gütig ſein. Das Ganze ſchloß das Kinn wie ein ruhi¬ ges Maß. Daß ſich die Geſtalt nicht regte, ſchien blos in dem ſtrengen bedeutungsvollen Himmel zu liegen, der mit den fernen ſtehenden Gewittern über das Glas¬ dach geſpannt war, und zur Betrachtung einlud. Edle Schatten wie ſchöne Hauche hoben den ſanften Glanz der Bruſt, und dann waren Gewänder bis an die Knöchel hinunter. Ich dachte an Nauſikae, wie ſie an der Pforte des goldenen Saales ſtand, und zu Odyſ¬ ſeus die Worte ſagte: „Fremdling, wenn du in dein Land kömmſt, ſo gedenke meiner.“ Der eine Arm war geſenkt, und hielt in den Fingern ein kleines Stäb¬ chen, der andere war in der Gewandung zum Theile verhüllt, die er ein wenig emporhob. Das Kleid war

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/119>, abgerufen am 05.05.2024.