Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

mehr, wenn ein Bliz durch den Himmel ging, und
von der Glasbedachung, die über der Treppe war,
hereingeleitet wurde. So gelangte ich bis in die
Mitte der Treppe, wo in einer Unterbrechung und
Erweiterung gleichsam wie in einer Halle nicht weit
von der Wand die Bildsäule von weißem Marmor
steht. Es war noch so licht, daß man alle Gegen¬
stände in klaren Linien und deutlichen Schatten sehen
konnte. Ich blickte auf die Bildsäule, und sie kam
mir heute ganz anders vor. Die Mädchengestalt
stand in so schöner Bildung, wie sie ein Künstler
ersinnen, wie sie sich eine Einbildungskraft vorstel¬
len, oder wie sie ein sehr tiefes Herz ahnen kann,
auf dem niedern Sockel vor mir, welcher eher eine
Stufe schien, auf die sie gestiegen war, um herum¬
blicken zu können. Ich vermochte nun nicht weiter zu
gehen, und richtete meine Augen genauer auf die
Gestalt. Sie schien mir von heidnischer Bildung zu
sein. Das Haupt stand auf dem Nacken, als blühete
es auf demselben. Dieser war ein wenig aber kaum
merklich vorwärts gebogen, und auf ihm lag das
eigenthümliche Licht, das nur der Marmor hat, und
das das dicke Glas des Treppendaches hereinsendete.
Der Bau der Haare, welcher leicht geordnet gegen den

mehr, wenn ein Bliz durch den Himmel ging, und
von der Glasbedachung, die über der Treppe war,
hereingeleitet wurde. So gelangte ich bis in die
Mitte der Treppe, wo in einer Unterbrechung und
Erweiterung gleichſam wie in einer Halle nicht weit
von der Wand die Bildſäule von weißem Marmor
ſteht. Es war noch ſo licht, daß man alle Gegen¬
ſtände in klaren Linien und deutlichen Schatten ſehen
konnte. Ich blickte auf die Bildſäule, und ſie kam
mir heute ganz anders vor. Die Mädchengeſtalt
ſtand in ſo ſchöner Bildung, wie ſie ein Künſtler
erſinnen, wie ſie ſich eine Einbildungskraft vorſtel¬
len, oder wie ſie ein ſehr tiefes Herz ahnen kann,
auf dem niedern Sockel vor mir, welcher eher eine
Stufe ſchien, auf die ſie geſtiegen war, um herum¬
blicken zu können. Ich vermochte nun nicht weiter zu
gehen, und richtete meine Augen genauer auf die
Geſtalt. Sie ſchien mir von heidniſcher Bildung zu
ſein. Das Haupt ſtand auf dem Nacken, als blühete
es auf demſelben. Dieſer war ein wenig aber kaum
merklich vorwärts gebogen, und auf ihm lag das
eigenthümliche Licht, das nur der Marmor hat, und
das das dicke Glas des Treppendaches hereinſendete.
Der Bau der Haare, welcher leicht geordnet gegen den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0118" n="104"/>
mehr, wenn ein Bliz durch den Himmel ging, und<lb/>
von der Glasbedachung, die über der Treppe war,<lb/>
hereingeleitet wurde. So gelangte ich bis in die<lb/>
Mitte der Treppe, wo in einer Unterbrechung und<lb/>
Erweiterung gleich&#x017F;am wie in einer Halle nicht weit<lb/>
von der Wand die Bild&#x017F;äule von weißem Marmor<lb/>
&#x017F;teht. Es war noch &#x017F;o licht, daß man alle Gegen¬<lb/>
&#x017F;tände in klaren Linien und deutlichen Schatten &#x017F;ehen<lb/>
konnte. Ich blickte auf die Bild&#x017F;äule, und &#x017F;ie kam<lb/>
mir heute ganz anders vor. Die Mädchenge&#x017F;talt<lb/>
&#x017F;tand in &#x017F;o &#x017F;chöner Bildung, wie &#x017F;ie ein Kün&#x017F;tler<lb/>
er&#x017F;innen, wie &#x017F;ie &#x017F;ich eine Einbildungskraft vor&#x017F;tel¬<lb/>
len, oder wie &#x017F;ie ein &#x017F;ehr tiefes Herz ahnen kann,<lb/>
auf dem niedern Sockel vor mir, welcher eher eine<lb/>
Stufe &#x017F;chien, auf die &#x017F;ie ge&#x017F;tiegen war, um herum¬<lb/>
blicken zu können. Ich vermochte nun nicht weiter zu<lb/>
gehen, und richtete meine Augen genauer auf die<lb/>
Ge&#x017F;talt. Sie &#x017F;chien mir von heidni&#x017F;cher Bildung zu<lb/>
&#x017F;ein. Das Haupt &#x017F;tand auf dem Nacken, als blühete<lb/>
es auf dem&#x017F;elben. Die&#x017F;er war ein wenig aber kaum<lb/>
merklich vorwärts gebogen, und auf ihm lag das<lb/>
eigenthümliche Licht, das nur der Marmor hat, und<lb/>
das das dicke Glas des Treppendaches herein&#x017F;endete.<lb/>
Der Bau der Haare, welcher leicht geordnet gegen den<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0118] mehr, wenn ein Bliz durch den Himmel ging, und von der Glasbedachung, die über der Treppe war, hereingeleitet wurde. So gelangte ich bis in die Mitte der Treppe, wo in einer Unterbrechung und Erweiterung gleichſam wie in einer Halle nicht weit von der Wand die Bildſäule von weißem Marmor ſteht. Es war noch ſo licht, daß man alle Gegen¬ ſtände in klaren Linien und deutlichen Schatten ſehen konnte. Ich blickte auf die Bildſäule, und ſie kam mir heute ganz anders vor. Die Mädchengeſtalt ſtand in ſo ſchöner Bildung, wie ſie ein Künſtler erſinnen, wie ſie ſich eine Einbildungskraft vorſtel¬ len, oder wie ſie ein ſehr tiefes Herz ahnen kann, auf dem niedern Sockel vor mir, welcher eher eine Stufe ſchien, auf die ſie geſtiegen war, um herum¬ blicken zu können. Ich vermochte nun nicht weiter zu gehen, und richtete meine Augen genauer auf die Geſtalt. Sie ſchien mir von heidniſcher Bildung zu ſein. Das Haupt ſtand auf dem Nacken, als blühete es auf demſelben. Dieſer war ein wenig aber kaum merklich vorwärts gebogen, und auf ihm lag das eigenthümliche Licht, das nur der Marmor hat, und das das dicke Glas des Treppendaches hereinſendete. Der Bau der Haare, welcher leicht geordnet gegen den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/118
Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/118>, abgerufen am 25.11.2024.