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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

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geblickt habe, und ich mußte sie vorziehen. Ich konnte
sie mir zwar nicht vorstellen; aber es schwebte mir ein
unbestimmtes dunkles Bild von Schönheit vor der
Seele. Die Freundinnen meiner Schwester oder an¬
dere Mädchen, mit denen ich gelegentlich zusammen
kam, hatten manche liebe angenehme Eigenschaften
in ihrem Angesichte, ich betrachtete sie, und dachte
mir, wie dieses oder jenes zu zeichnen wäre; aber ich
mochte sie ebenfalls nie ersuchen, und so kam ich
nicht dazu, ein lebendes vor mir befindliches Ange¬
sicht zu zeichnen. Ich wiederholte also die Züge in
der Erinnerung oder zeichnete nach Gemälden. Man
machte mich endlich auch darauf aufmerksam, daß ich
immer Mädchenköpfe entwerfe. Ich war beschämt,
und begann später Männer Greise Frauen ja auch
andere Theile des Körpers zu zeichnen, so weit ich sie
in Vorlagen oder Gipsabgüssen bekommen konnte.

Troz dieser Bestrebungen, welchen nach dem
Grundsaze unsers Hauses kein Hinderniß in den Weg
gelegt wurde, vernachläßigte ich meine Hauptbeschäf¬
tigung doch nicht. Es that mir sehr wohl, zu Hause
unter meinen Sammlungen herum zu gehen, ich
dachte oft an die Worte des alten Mannes in dem
Rosenhause, und im Gegensaze zu den Festen, zu de¬

geblickt habe, und ich mußte ſie vorziehen. Ich konnte
ſie mir zwar nicht vorſtellen; aber es ſchwebte mir ein
unbeſtimmtes dunkles Bild von Schönheit vor der
Seele. Die Freundinnen meiner Schweſter oder an¬
dere Mädchen, mit denen ich gelegentlich zuſammen
kam, hatten manche liebe angenehme Eigenſchaften
in ihrem Angeſichte, ich betrachtete ſie, und dachte
mir, wie dieſes oder jenes zu zeichnen wäre; aber ich
mochte ſie ebenfalls nie erſuchen, und ſo kam ich
nicht dazu, ein lebendes vor mir befindliches Ange¬
ſicht zu zeichnen. Ich wiederholte alſo die Züge in
der Erinnerung oder zeichnete nach Gemälden. Man
machte mich endlich auch darauf aufmerkſam, daß ich
immer Mädchenköpfe entwerfe. Ich war beſchämt,
und begann ſpäter Männer Greiſe Frauen ja auch
andere Theile des Körpers zu zeichnen, ſo weit ich ſie
in Vorlagen oder Gipsabgüſſen bekommen konnte.

Troz dieſer Beſtrebungen, welchen nach dem
Grundſaze unſers Hauſes kein Hinderniß in den Weg
gelegt wurde, vernachläßigte ich meine Hauptbeſchäf¬
tigung doch nicht. Es that mir ſehr wohl, zu Hauſe
unter meinen Sammlungen herum zu gehen, ich
dachte oft an die Worte des alten Mannes in dem
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[311/0325] geblickt habe, und ich mußte ſie vorziehen. Ich konnte ſie mir zwar nicht vorſtellen; aber es ſchwebte mir ein unbeſtimmtes dunkles Bild von Schönheit vor der Seele. Die Freundinnen meiner Schweſter oder an¬ dere Mädchen, mit denen ich gelegentlich zuſammen kam, hatten manche liebe angenehme Eigenſchaften in ihrem Angeſichte, ich betrachtete ſie, und dachte mir, wie dieſes oder jenes zu zeichnen wäre; aber ich mochte ſie ebenfalls nie erſuchen, und ſo kam ich nicht dazu, ein lebendes vor mir befindliches Ange¬ ſicht zu zeichnen. Ich wiederholte alſo die Züge in der Erinnerung oder zeichnete nach Gemälden. Man machte mich endlich auch darauf aufmerkſam, daß ich immer Mädchenköpfe entwerfe. Ich war beſchämt, und begann ſpäter Männer Greiſe Frauen ja auch andere Theile des Körpers zu zeichnen, ſo weit ich ſie in Vorlagen oder Gipsabgüſſen bekommen konnte. Troz dieſer Beſtrebungen, welchen nach dem Grundſaze unſers Hauſes kein Hinderniß in den Weg gelegt wurde, vernachläßigte ich meine Hauptbeſchäf¬ tigung doch nicht. Es that mir ſehr wohl, zu Hauſe unter meinen Sammlungen herum zu gehen, ich dachte oft an die Worte des alten Mannes in dem Roſenhauſe, und im Gegenſaze zu den Feſten, zu de¬

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/325>, abgerufen am 01.06.2024.