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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857.

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blickten neugierig nach dem Vorhange der Bühne. Es
war damals nicht meine Gewohnheit, und ist es jezt
auch noch nicht, in überfüllten Räumen die Menge
der Menschen die Kleider den Puz die Lichter die
Angesichter und dergleichen zu betrachten. Ich stand
also ruhig, bis die Musik begann und endete, bis
sich der Vorhang hob, und das Stück den Anfang
nahm.

Der König trat ein, und war, wie er später von
sich sagte, jeder Zoll ein König. Aber er war auch
ein übereilender und bedaurungswürdiger Thor. Re¬
gan Goneril und Cordelia redeten, wie sie nach ih¬
rem Gemüthe reden mußten, auch Kent redete so, wie
er nicht anders konnte. Der König empfing die Re¬
den, wie er nach seinem heftigen leichtsinnigen und
doch liebenswürdigen Gemüthe ebenfalls mußte. Er
verbannte die einfache Cordelia, die ihre Antwort
nicht schmücken konnte, der er desto heftiger zürnte, da
sie früher sein Liebling gewesen war, und gab sein
Reich den beiden anderen Töchtern, Regan und Gone¬
ril, die ihm auf seine Frage, wer ihn am meisten liebe,
mit übertriebenen Ausdrücken schmeichelten, und ihm
dadurch, wenn er der Betrachtung fähig gewesen
wäre, schon die Unächtheit ihrer Liebe darthaten, was

blickten neugierig nach dem Vorhange der Bühne. Es
war damals nicht meine Gewohnheit, und iſt es jezt
auch noch nicht, in überfüllten Räumen die Menge
der Menſchen die Kleider den Puz die Lichter die
Angeſichter und dergleichen zu betrachten. Ich ſtand
alſo ruhig, bis die Muſik begann und endete, bis
ſich der Vorhang hob, und das Stück den Anfang
nahm.

Der König trat ein, und war, wie er ſpäter von
ſich ſagte, jeder Zoll ein König. Aber er war auch
ein übereilender und bedaurungswürdiger Thor. Re¬
gan Goneril und Cordelia redeten, wie ſie nach ih¬
rem Gemüthe reden mußten, auch Kent redete ſo, wie
er nicht anders konnte. Der König empfing die Re¬
den, wie er nach ſeinem heftigen leichtſinnigen und
doch liebenswürdigen Gemüthe ebenfalls mußte. Er
verbannte die einfache Cordelia, die ihre Antwort
nicht ſchmücken konnte, der er deſto heftiger zürnte, da
ſie früher ſein Liebling geweſen war, und gab ſein
Reich den beiden anderen Töchtern, Regan und Gone¬
ril, die ihm auf ſeine Frage, wer ihn am meiſten liebe,
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[300/0314] blickten neugierig nach dem Vorhange der Bühne. Es war damals nicht meine Gewohnheit, und iſt es jezt auch noch nicht, in überfüllten Räumen die Menge der Menſchen die Kleider den Puz die Lichter die Angeſichter und dergleichen zu betrachten. Ich ſtand alſo ruhig, bis die Muſik begann und endete, bis ſich der Vorhang hob, und das Stück den Anfang nahm. Der König trat ein, und war, wie er ſpäter von ſich ſagte, jeder Zoll ein König. Aber er war auch ein übereilender und bedaurungswürdiger Thor. Re¬ gan Goneril und Cordelia redeten, wie ſie nach ih¬ rem Gemüthe reden mußten, auch Kent redete ſo, wie er nicht anders konnte. Der König empfing die Re¬ den, wie er nach ſeinem heftigen leichtſinnigen und doch liebenswürdigen Gemüthe ebenfalls mußte. Er verbannte die einfache Cordelia, die ihre Antwort nicht ſchmücken konnte, der er deſto heftiger zürnte, da ſie früher ſein Liebling geweſen war, und gab ſein Reich den beiden anderen Töchtern, Regan und Gone¬ ril, die ihm auf ſeine Frage, wer ihn am meiſten liebe, mit übertriebenen Ausdrücken ſchmeichelten, und ihm dadurch, wenn er der Betrachtung fähig geweſen wäre, ſchon die Unächtheit ihrer Liebe darthaten, was

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 1. Pesth, 1857, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer01_1857/314>, abgerufen am 22.11.2024.