schen Reflexionen durch wesentliche Leitung geltend machen, ohne in das Selbstbewußtsein zu treten. Diese unbewußten Füh- rer der Gedanken ans Licht zu ziehen, ist das vorzüglichste Geschäft des Kritikers -- ein Geschäft, gefahrvoll, aber nicht bloß unvermeidlich, sondern sogar möglich mit überzeugender Kraft durchgeführt zu werden. Was den obigen Schluß be- trifft, so ist er nur scheinbar ein Schluß: das hat Becker ge- fühlt, und dieses Gefühl hat ihn von demselben zurückgehalten. In demselben liegt nämlich gar kein Fortschritt; sondern seine drei Sätze sagen dasselbe mit anderen Worten. Da er aber ei- gentlich in Beckers Definition der organischen Verrichtung liegt, so stoßen wir hier abermals, aber umfassender und tiefer, auf die Tautologie dieser Definition. Nicht bloß, daß in dem- selben das erst zu definirende Wort vielfach gebraucht wird; sondern die beiden Merkmale sind selbst wieder dasselbe. Oder wo ist der Unterschied, ob ich sage, es gehe eine Verrichtung mit einer innern Nothwendigkeit aus dem Leben hervor; oder ob ich sage, eine Verrichtung habe das Leben zum Zwecke? Denn, muß eine Verrichtung nothwendig aus dem Leben her- vorgehen, so wäre das Leben nicht eben dieses selbst, wenn jene nicht aus ihm hervorginge; damit also das Leben es selber sei, zu diesem Zwecke geht jene Verrichtung aus ihm hervor; oder diese hat den Zweck das Leben erst zum Leben zu machen -- d. h. es ist hier nur ein leeres logisches Formel-Spiel, in wel- chem die Verrichtung bald als Folge bald als Mittel angese- hen wird.
Sie ist aber nur darum beides, weil sie keins von beiden ist: sie ist scheinbar, beliebig nach subjectiver, sophistischer Auf- fassung, das eine wie das andere; sie ist aber in Wahrheit, in echt speculativer Auffassung vielmehr eine von den vielen Sei- ten, welche zusammen das Ganze des vielseitigen Lebens bil- den. Das Athmen z. B. ist weder nothwendige Folge, noch Ursache des Lebens; ist weder Zweck des Lebens, noch hat es dasselbe zum Zwecke; sondern es ist eben das Leben nach ei- ner Seite seines Seins. Und so erkennen wir nun das Idem- per-idem jener Beckerschen Definition auch im Ganzen: indem nicht nur die beiden Merkmale nur eins sind, sondern auch mit dem zu Definirenden zusammenfallen; so daß eigentlich nur ge- sagt wird: eine organische Verrichtung ist eine Verrichtung, welche organisch ist. Nach solcher Definition läßt sich natür-
schen Reflexionen durch wesentliche Leitung geltend machen, ohne in das Selbstbewußtsein zu treten. Diese unbewußten Füh- rer der Gedanken ans Licht zu ziehen, ist das vorzüglichste Geschäft des Kritikers — ein Geschäft, gefahrvoll, aber nicht bloß unvermeidlich, sondern sogar möglich mit überzeugender Kraft durchgeführt zu werden. Was den obigen Schluß be- trifft, so ist er nur scheinbar ein Schluß: das hat Becker ge- fühlt, und dieses Gefühl hat ihn von demselben zurückgehalten. In demselben liegt nämlich gar kein Fortschritt; sondern seine drei Sätze sagen dasselbe mit anderen Worten. Da er aber ei- gentlich in Beckers Definition der organischen Verrichtung liegt, so stoßen wir hier abermals, aber umfassender und tiefer, auf die Tautologie dieser Definition. Nicht bloß, daß in dem- selben das erst zu definirende Wort vielfach gebraucht wird; sondern die beiden Merkmale sind selbst wieder dasselbe. Oder wo ist der Unterschied, ob ich sage, es gehe eine Verrichtung mit einer innern Nothwendigkeit aus dem Leben hervor; oder ob ich sage, eine Verrichtung habe das Leben zum Zwecke? Denn, muß eine Verrichtung nothwendig aus dem Leben her- vorgehen, so wäre das Leben nicht eben dieses selbst, wenn jene nicht aus ihm hervorginge; damit also das Leben es selber sei, zu diesem Zwecke geht jene Verrichtung aus ihm hervor; oder diese hat den Zweck das Leben erst zum Leben zu machen — d. h. es ist hier nur ein leeres logisches Formel-Spiel, in wel- chem die Verrichtung bald als Folge bald als Mittel angese- hen wird.
Sie ist aber nur darum beides, weil sie keins von beiden ist: sie ist scheinbar, beliebig nach subjectiver, sophistischer Auf- fassung, das eine wie das andere; sie ist aber in Wahrheit, in echt speculativer Auffassung vielmehr eine von den vielen Sei- ten, welche zusammen das Ganze des vielseitigen Lebens bil- den. Das Athmen z. B. ist weder nothwendige Folge, noch Ursache des Lebens; ist weder Zweck des Lebens, noch hat es dasselbe zum Zwecke; sondern es ist eben das Leben nach ei- ner Seite seines Seins. Und so erkennen wir nun das Idem- per-idem jener Beckerschen Definition auch im Ganzen: indem nicht nur die beiden Merkmale nur eins sind, sondern auch mit dem zu Definirenden zusammenfallen; so daß eigentlich nur ge- sagt wird: eine organische Verrichtung ist eine Verrichtung, welche organisch ist. Nach solcher Definition läßt sich natür-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0070"n="32"/>
schen Reflexionen durch wesentliche Leitung geltend machen,<lb/>
ohne in das Selbstbewußtsein zu treten. Diese unbewußten Füh-<lb/>
rer der Gedanken ans Licht zu ziehen, ist das vorzüglichste<lb/>
Geschäft des Kritikers — ein Geschäft, gefahrvoll, aber nicht<lb/>
bloß unvermeidlich, sondern sogar möglich mit überzeugender<lb/>
Kraft durchgeführt zu werden. Was den obigen Schluß be-<lb/>
trifft, so ist er nur scheinbar ein Schluß: das hat Becker ge-<lb/>
fühlt, und dieses Gefühl hat ihn von demselben zurückgehalten.<lb/>
In demselben liegt nämlich gar kein Fortschritt; sondern seine<lb/>
drei Sätze sagen dasselbe mit anderen Worten. Da er aber ei-<lb/>
gentlich in Beckers Definition der organischen Verrichtung<lb/>
liegt, so stoßen wir hier abermals, aber umfassender und tiefer,<lb/>
auf die Tautologie dieser Definition. Nicht bloß, daß in dem-<lb/>
selben das erst zu definirende Wort vielfach gebraucht wird;<lb/>
sondern die beiden Merkmale sind selbst wieder dasselbe. Oder<lb/>
wo ist der Unterschied, ob ich sage, es gehe eine Verrichtung<lb/>
mit einer innern Nothwendigkeit aus dem Leben hervor; oder<lb/>
ob ich sage, eine Verrichtung habe das Leben zum Zwecke?<lb/>
Denn, muß eine Verrichtung nothwendig aus dem Leben her-<lb/>
vorgehen, so wäre das Leben nicht eben dieses selbst, wenn jene<lb/>
nicht aus ihm hervorginge; damit also das Leben es selber sei,<lb/>
zu diesem Zwecke geht jene Verrichtung aus ihm hervor; oder<lb/>
diese hat den Zweck das Leben erst zum Leben zu machen —<lb/>
d. h. es ist hier nur ein leeres logisches Formel-Spiel, in wel-<lb/>
chem die Verrichtung bald als Folge bald als Mittel angese-<lb/>
hen wird.</p><lb/><p>Sie ist aber nur darum beides, weil sie keins von beiden<lb/>
ist: sie ist scheinbar, beliebig nach subjectiver, sophistischer Auf-<lb/>
fassung, das eine wie das andere; sie ist aber in Wahrheit, in<lb/>
echt speculativer Auffassung vielmehr eine von den vielen Sei-<lb/>
ten, welche zusammen das Ganze des vielseitigen Lebens bil-<lb/>
den. Das Athmen z. B. ist weder nothwendige Folge, noch<lb/>
Ursache des Lebens; ist weder Zweck des Lebens, noch hat es<lb/>
dasselbe zum Zwecke; sondern es <hirendition="#g">ist</hi> eben das Leben nach ei-<lb/>
ner Seite seines Seins. Und so erkennen wir nun das <hirendition="#i">Idem-<lb/>
per-idem</hi> jener Beckerschen Definition auch im Ganzen: indem<lb/>
nicht nur die beiden Merkmale nur eins sind, sondern auch mit<lb/>
dem zu Definirenden zusammenfallen; so daß eigentlich nur ge-<lb/>
sagt wird: eine organische Verrichtung ist eine Verrichtung,<lb/>
welche organisch ist. Nach solcher Definition läßt sich natür-<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[32/0070]
schen Reflexionen durch wesentliche Leitung geltend machen,
ohne in das Selbstbewußtsein zu treten. Diese unbewußten Füh-
rer der Gedanken ans Licht zu ziehen, ist das vorzüglichste
Geschäft des Kritikers — ein Geschäft, gefahrvoll, aber nicht
bloß unvermeidlich, sondern sogar möglich mit überzeugender
Kraft durchgeführt zu werden. Was den obigen Schluß be-
trifft, so ist er nur scheinbar ein Schluß: das hat Becker ge-
fühlt, und dieses Gefühl hat ihn von demselben zurückgehalten.
In demselben liegt nämlich gar kein Fortschritt; sondern seine
drei Sätze sagen dasselbe mit anderen Worten. Da er aber ei-
gentlich in Beckers Definition der organischen Verrichtung
liegt, so stoßen wir hier abermals, aber umfassender und tiefer,
auf die Tautologie dieser Definition. Nicht bloß, daß in dem-
selben das erst zu definirende Wort vielfach gebraucht wird;
sondern die beiden Merkmale sind selbst wieder dasselbe. Oder
wo ist der Unterschied, ob ich sage, es gehe eine Verrichtung
mit einer innern Nothwendigkeit aus dem Leben hervor; oder
ob ich sage, eine Verrichtung habe das Leben zum Zwecke?
Denn, muß eine Verrichtung nothwendig aus dem Leben her-
vorgehen, so wäre das Leben nicht eben dieses selbst, wenn jene
nicht aus ihm hervorginge; damit also das Leben es selber sei,
zu diesem Zwecke geht jene Verrichtung aus ihm hervor; oder
diese hat den Zweck das Leben erst zum Leben zu machen —
d. h. es ist hier nur ein leeres logisches Formel-Spiel, in wel-
chem die Verrichtung bald als Folge bald als Mittel angese-
hen wird.
Sie ist aber nur darum beides, weil sie keins von beiden
ist: sie ist scheinbar, beliebig nach subjectiver, sophistischer Auf-
fassung, das eine wie das andere; sie ist aber in Wahrheit, in
echt speculativer Auffassung vielmehr eine von den vielen Sei-
ten, welche zusammen das Ganze des vielseitigen Lebens bil-
den. Das Athmen z. B. ist weder nothwendige Folge, noch
Ursache des Lebens; ist weder Zweck des Lebens, noch hat es
dasselbe zum Zwecke; sondern es ist eben das Leben nach ei-
ner Seite seines Seins. Und so erkennen wir nun das Idem-
per-idem jener Beckerschen Definition auch im Ganzen: indem
nicht nur die beiden Merkmale nur eins sind, sondern auch mit
dem zu Definirenden zusammenfallen; so daß eigentlich nur ge-
sagt wird: eine organische Verrichtung ist eine Verrichtung,
welche organisch ist. Nach solcher Definition läßt sich natür-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/70>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.