Stoff und Kraft borgen, dessen polares Wirken er auszugleichen, dessen Gegensätze er zu fesseln, den er sich zu assimiliren, an- zueignen hat. Er fällt dagegen ihm anheim, sobald er die Kraft ihn so zu beherrschen verloren hat. Es herrschen im Reiche des Organismus nicht eigentlich andere Gesetze als in der un- organischen, mechanischen Natur; sie bestehen beide aus densel- ben elementaren Stoffen, und diese haben immer dieselben Kräfte. Aber die allgemeinen Gesetze der Natur, die im Reiche des Mechanismus und Chemismus in ihrer Einfachheit und Selb- ständigkeit auftreten, sind im Organismus so kunstvoll in ein- ander verflochten, so eigenthümlich an einander gebunden, daß ihre Wirkungen, sich gegenseitig von der einfachen ihnen ur- sprünglich angehörenden Bahn ablenkend, durchaus andere wer- den. Durch die Weise ihres Zusammenwirkens können auch diese an sich rein mechanischen Kräfte nicht anders, als sich fortwährend aus der Vorrathskammer der unorganischen Natur verstärken, zugleich aber auch diese Verstärkungen wieder in die Vereinigung ziehen, in welcher sie selbst stehen, und also die neue Kraft sogleich mit der Aufnahme ihrer Selbständig- keit berauben und ihre Wirkung in die Bahn lenken, wel- che durch die Zusammenfassung der Kräfte im Organismus geschaffen ist. Der Feind des Organismus liegt nicht mehr außerhalb seiner in der ihn umgebenden unorganischen Natur, als innerhalb seiner; denn alle Kräfte, die in ihm zusammen- gehalten, deren Verwandtschaft und gegenseitige Zuneigung, wie sie in Gemäßheit ihrer Gegensätze Statt haben, unterdrückt und unwirksam gemacht werden, und zwar so, daß sie sich selbst gegenseitig hemmen, thun dies doch nur mit Verläugnung und zum Trotz ihres selbständigen einzelnen Wirkens. Sie thun sich selbst diese Gewalt an, sich gegen ihre Grundsätze und Beckerisch "organischen Differenzverhältnisse" zu vereinen; aber diese Gewalt läßt der Spannung dieser Gegensätze gegen- über nach; um so stärker wird ihr Streben nach Selbständig- keit und Entfaltung ihrer elementaren polaren Wirksamkeit, bis sie dieselbe endlich erlangen und der Organismus damit zerfällt.
Was also Becker Differenzverhältniß, Gegensatz nennt, das ist die polare, zwiespältige Wirkungsweise im Unorgani- schen. Selten auch nennt Becker jene Namen ohne das Bei- wort "organisch" hinzuzufügen, um sich und den Leser gewalt- sam in der Täuschung zu erhalten, als habe man es hier mit
Stoff und Kraft borgen, dessen polares Wirken er auszugleichen, dessen Gegensätze er zu fesseln, den er sich zu assimiliren, an- zueignen hat. Er fällt dagegen ihm anheim, sobald er die Kraft ihn so zu beherrschen verloren hat. Es herrschen im Reiche des Organismus nicht eigentlich andere Gesetze als in der un- organischen, mechanischen Natur; sie bestehen beide aus densel- ben elementaren Stoffen, und diese haben immer dieselben Kräfte. Aber die allgemeinen Gesetze der Natur, die im Reiche des Mechanismus und Chemismus in ihrer Einfachheit und Selb- ständigkeit auftreten, sind im Organismus so kunstvoll in ein- ander verflochten, so eigenthümlich an einander gebunden, daß ihre Wirkungen, sich gegenseitig von der einfachen ihnen ur- sprünglich angehörenden Bahn ablenkend, durchaus andere wer- den. Durch die Weise ihres Zusammenwirkens können auch diese an sich rein mechanischen Kräfte nicht anders, als sich fortwährend aus der Vorrathskammer der unorganischen Natur verstärken, zugleich aber auch diese Verstärkungen wieder in die Vereinigung ziehen, in welcher sie selbst stehen, und also die neue Kraft sogleich mit der Aufnahme ihrer Selbständig- keit berauben und ihre Wirkung in die Bahn lenken, wel- che durch die Zusammenfassung der Kräfte im Organismus geschaffen ist. Der Feind des Organismus liegt nicht mehr außerhalb seiner in der ihn umgebenden unorganischen Natur, als innerhalb seiner; denn alle Kräfte, die in ihm zusammen- gehalten, deren Verwandtschaft und gegenseitige Zuneigung, wie sie in Gemäßheit ihrer Gegensätze Statt haben, unterdrückt und unwirksam gemacht werden, und zwar so, daß sie sich selbst gegenseitig hemmen, thun dies doch nur mit Verläugnung und zum Trotz ihres selbständigen einzelnen Wirkens. Sie thun sich selbst diese Gewalt an, sich gegen ihre Grundsätze und Beckerisch „organischen Differenzverhältnisse“ zu vereinen; aber diese Gewalt läßt der Spannung dieser Gegensätze gegen- über nach; um so stärker wird ihr Streben nach Selbständig- keit und Entfaltung ihrer elementaren polaren Wirksamkeit, bis sie dieselbe endlich erlangen und der Organismus damit zerfällt.
Was also Becker Differenzverhältniß, Gegensatz nennt, das ist die polare, zwiespältige Wirkungsweise im Unorgani- schen. Selten auch nennt Becker jene Namen ohne das Bei- wort „organisch“ hinzuzufügen, um sich und den Leser gewalt- sam in der Täuschung zu erhalten, als habe man es hier mit
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0059"n="21"/>
Stoff und Kraft borgen, dessen polares Wirken er auszugleichen,<lb/>
dessen Gegensätze er zu fesseln, den er sich zu assimiliren, an-<lb/>
zueignen hat. Er fällt dagegen ihm anheim, sobald er die Kraft<lb/>
ihn so zu beherrschen verloren hat. Es herrschen im Reiche<lb/>
des Organismus nicht eigentlich andere Gesetze als in der un-<lb/>
organischen, mechanischen Natur; sie bestehen beide aus densel-<lb/>
ben elementaren Stoffen, und diese haben immer dieselben Kräfte.<lb/>
Aber die allgemeinen Gesetze der Natur, die im Reiche des<lb/>
Mechanismus und Chemismus in ihrer Einfachheit und Selb-<lb/>
ständigkeit auftreten, sind im Organismus so kunstvoll in ein-<lb/>
ander verflochten, so eigenthümlich an einander gebunden, daß<lb/>
ihre Wirkungen, sich gegenseitig von der einfachen ihnen ur-<lb/>
sprünglich angehörenden Bahn ablenkend, durchaus andere wer-<lb/>
den. Durch die Weise ihres Zusammenwirkens können auch<lb/>
diese an sich rein mechanischen Kräfte nicht anders, als sich<lb/>
fortwährend aus der Vorrathskammer der unorganischen Natur<lb/>
verstärken, zugleich aber auch diese Verstärkungen wieder in<lb/>
die Vereinigung ziehen, in welcher sie selbst stehen, und also<lb/>
die neue Kraft sogleich mit der Aufnahme ihrer Selbständig-<lb/>
keit berauben und ihre Wirkung in die Bahn lenken, wel-<lb/>
che durch die Zusammenfassung der Kräfte im Organismus<lb/>
geschaffen ist. Der Feind des Organismus liegt nicht mehr<lb/>
außerhalb seiner in der ihn umgebenden unorganischen Natur,<lb/>
als innerhalb seiner; denn alle Kräfte, die in ihm zusammen-<lb/>
gehalten, deren Verwandtschaft und gegenseitige Zuneigung, wie<lb/>
sie in Gemäßheit ihrer Gegensätze Statt haben, unterdrückt und<lb/>
unwirksam gemacht werden, und zwar so, daß sie sich selbst<lb/>
gegenseitig hemmen, thun dies doch nur mit Verläugnung und<lb/>
zum Trotz ihres selbständigen einzelnen Wirkens. Sie thun<lb/>
sich selbst diese Gewalt an, sich gegen ihre Grundsätze und<lb/>
Beckerisch „organischen Differenzverhältnisse“ zu vereinen;<lb/>
aber diese Gewalt läßt der Spannung dieser Gegensätze gegen-<lb/>
über nach; um so stärker wird ihr Streben nach Selbständig-<lb/>
keit und Entfaltung ihrer elementaren polaren Wirksamkeit, bis<lb/>
sie dieselbe endlich erlangen und der Organismus damit zerfällt.</p><lb/><p>Was also Becker Differenzverhältniß, Gegensatz nennt,<lb/>
das ist die polare, zwiespältige Wirkungsweise im Unorgani-<lb/>
schen. Selten auch nennt Becker jene Namen ohne das Bei-<lb/>
wort „organisch“ hinzuzufügen, um sich und den Leser gewalt-<lb/>
sam in der Täuschung zu erhalten, als habe man es hier mit<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[21/0059]
Stoff und Kraft borgen, dessen polares Wirken er auszugleichen,
dessen Gegensätze er zu fesseln, den er sich zu assimiliren, an-
zueignen hat. Er fällt dagegen ihm anheim, sobald er die Kraft
ihn so zu beherrschen verloren hat. Es herrschen im Reiche
des Organismus nicht eigentlich andere Gesetze als in der un-
organischen, mechanischen Natur; sie bestehen beide aus densel-
ben elementaren Stoffen, und diese haben immer dieselben Kräfte.
Aber die allgemeinen Gesetze der Natur, die im Reiche des
Mechanismus und Chemismus in ihrer Einfachheit und Selb-
ständigkeit auftreten, sind im Organismus so kunstvoll in ein-
ander verflochten, so eigenthümlich an einander gebunden, daß
ihre Wirkungen, sich gegenseitig von der einfachen ihnen ur-
sprünglich angehörenden Bahn ablenkend, durchaus andere wer-
den. Durch die Weise ihres Zusammenwirkens können auch
diese an sich rein mechanischen Kräfte nicht anders, als sich
fortwährend aus der Vorrathskammer der unorganischen Natur
verstärken, zugleich aber auch diese Verstärkungen wieder in
die Vereinigung ziehen, in welcher sie selbst stehen, und also
die neue Kraft sogleich mit der Aufnahme ihrer Selbständig-
keit berauben und ihre Wirkung in die Bahn lenken, wel-
che durch die Zusammenfassung der Kräfte im Organismus
geschaffen ist. Der Feind des Organismus liegt nicht mehr
außerhalb seiner in der ihn umgebenden unorganischen Natur,
als innerhalb seiner; denn alle Kräfte, die in ihm zusammen-
gehalten, deren Verwandtschaft und gegenseitige Zuneigung, wie
sie in Gemäßheit ihrer Gegensätze Statt haben, unterdrückt und
unwirksam gemacht werden, und zwar so, daß sie sich selbst
gegenseitig hemmen, thun dies doch nur mit Verläugnung und
zum Trotz ihres selbständigen einzelnen Wirkens. Sie thun
sich selbst diese Gewalt an, sich gegen ihre Grundsätze und
Beckerisch „organischen Differenzverhältnisse“ zu vereinen;
aber diese Gewalt läßt der Spannung dieser Gegensätze gegen-
über nach; um so stärker wird ihr Streben nach Selbständig-
keit und Entfaltung ihrer elementaren polaren Wirksamkeit, bis
sie dieselbe endlich erlangen und der Organismus damit zerfällt.
Was also Becker Differenzverhältniß, Gegensatz nennt,
das ist die polare, zwiespältige Wirkungsweise im Unorgani-
schen. Selten auch nennt Becker jene Namen ohne das Bei-
wort „organisch“ hinzuzufügen, um sich und den Leser gewalt-
sam in der Täuschung zu erhalten, als habe man es hier mit
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/59>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.