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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Kraft des Geistes auf das Princip allein gerichtet ist, dieses keine
bestimmte Gestalt annehmen will, kann es bei der Entwickelung
des Besonderen, wo die Aufmerksamkeit des Geistes über einen
größeren Vorstellungskreis verbreitet ist, sich fester und klarer
vergegenwärtigen? Schwerlich! nur wird, je nachdem die Ge-
legenheit es herbeiführt, diese oder jene Seite des Princips her-
vortreten, die vorher nicht erörtert war. Streng genommen würde
diese Seite sogar unberechtigt sein; jedenfalls kann sie, gelöst
aus dem Zusammenhange mit allen übrigen Seiten des Ganzen,
nicht nach ihrer wahren Begrenzung auftreten. Sie verhilft uns
indeß dazu, uns Beckers Anschauung des Organischen zu ver-
vollständigen.

§. 4. Gegensatz des Organischen zum Künstlichen.

So tritt nun gelegentlich (§. 6. Anf.) folgendes höchst wich-
tige Moment hervor: "Als Product eines Organischen, welches
nicht mit Willkür hervorgebracht ist, sondern sich mit einer in-
neren Nothwendigkeit entwickelt hat, unterscheidet sich die Spra-
che von jedem Werke menschlicher Erfindung und Kunst. Das
Kunstwerk geht nicht mit innerer Nothwendigkeit aus dem Le-
ben selbst hervor, sondern aus einer durch ein äußeres Bedürf-
niß angeregten Reflexion. Es hat das Gesetz seiner Entwicke-
lung und Gestaltung nicht in sich selbst, sondern empfängt es
von der Intelligenz des Erfinders; und seine Einrichtung ist
wandelbar, wie das Bedürfniß und die Erkenntniß des Künst-
lers." Hieraus entnehmen wir, daß wenn organisch das Natür-
liche ist, den Gegensatz dazu das mit Willkür Geschaffene bil-
det, die Erfindung und Kunst des Menschen. Hier erkennt man
aber auch sogleich alle Uebelstände, welche dem Herausgreifen
einer Seite des Princips anzuhaften pflegen. Welche Berechti-
gung hat dieser Gegensatz? Das geistige Leben gehört zum
All, ist eine besondere Art, eine Lebensfunction des allgemeinen
Lebens -- wie spielt hier plötzlich das Unorganische hinein?
wie ist Willkür, als Gegensatz zum Organischen, möglich? wo-
her stammt im organischen All ein "äußeres Bedürfniß"? Das
Kunstwerk habe das Gesetz seiner Entwickelung und Gestaltung
nicht in sich, sondern empfange es von der Intelligenz des Er-
finders; aber die Intelligenz, wie Becker so häufig wiederholt,
ist organisch. Das Kunstwerk ist ein in der Materie verleib-
lichter Begriff oder Gedanke, also ist es organisch; es geht al-
lerdings "mit innerer Nothwendigkeit aus dem Leben selbst,"

Kraft des Geistes auf das Princip allein gerichtet ist, dieses keine
bestimmte Gestalt annehmen will, kann es bei der Entwickelung
des Besonderen, wo die Aufmerksamkeit des Geistes über einen
größeren Vorstellungskreis verbreitet ist, sich fester und klarer
vergegenwärtigen? Schwerlich! nur wird, je nachdem die Ge-
legenheit es herbeiführt, diese oder jene Seite des Princips her-
vortreten, die vorher nicht erörtert war. Streng genommen würde
diese Seite sogar unberechtigt sein; jedenfalls kann sie, gelöst
aus dem Zusammenhange mit allen übrigen Seiten des Ganzen,
nicht nach ihrer wahren Begrenzung auftreten. Sie verhilft uns
indeß dazu, uns Beckers Anschauung des Organischen zu ver-
vollständigen.

§. 4. Gegensatz des Organischen zum Künstlichen.

So tritt nun gelegentlich (§. 6. Anf.) folgendes höchst wich-
tige Moment hervor: „Als Product eines Organischen, welches
nicht mit Willkür hervorgebracht ist, sondern sich mit einer in-
neren Nothwendigkeit entwickelt hat, unterscheidet sich die Spra-
che von jedem Werke menschlicher Erfindung und Kunst. Das
Kunstwerk geht nicht mit innerer Nothwendigkeit aus dem Le-
ben selbst hervor, sondern aus einer durch ein äußeres Bedürf-
niß angeregten Reflexion. Es hat das Gesetz seiner Entwicke-
lung und Gestaltung nicht in sich selbst, sondern empfängt es
von der Intelligenz des Erfinders; und seine Einrichtung ist
wandelbar, wie das Bedürfniß und die Erkenntniß des Künst-
lers.“ Hieraus entnehmen wir, daß wenn organisch das Natür-
liche ist, den Gegensatz dazu das mit Willkür Geschaffene bil-
det, die Erfindung und Kunst des Menschen. Hier erkennt man
aber auch sogleich alle Uebelstände, welche dem Herausgreifen
einer Seite des Princips anzuhaften pflegen. Welche Berechti-
gung hat dieser Gegensatz? Das geistige Leben gehört zum
All, ist eine besondere Art, eine Lebensfunction des allgemeinen
Lebens — wie spielt hier plötzlich das Unorganische hinein?
wie ist Willkür, als Gegensatz zum Organischen, möglich? wo-
her stammt im organischen All ein „äußeres Bedürfniß“? Das
Kunstwerk habe das Gesetz seiner Entwickelung und Gestaltung
nicht in sich, sondern empfange es von der Intelligenz des Er-
finders; aber die Intelligenz, wie Becker so häufig wiederholt,
ist organisch. Das Kunstwerk ist ein in der Materie verleib-
lichter Begriff oder Gedanke, also ist es organisch; es geht al-
lerdings „mit innerer Nothwendigkeit aus dem Leben selbst,“

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[5/0043] Kraft des Geistes auf das Princip allein gerichtet ist, dieses keine bestimmte Gestalt annehmen will, kann es bei der Entwickelung des Besonderen, wo die Aufmerksamkeit des Geistes über einen größeren Vorstellungskreis verbreitet ist, sich fester und klarer vergegenwärtigen? Schwerlich! nur wird, je nachdem die Ge- legenheit es herbeiführt, diese oder jene Seite des Princips her- vortreten, die vorher nicht erörtert war. Streng genommen würde diese Seite sogar unberechtigt sein; jedenfalls kann sie, gelöst aus dem Zusammenhange mit allen übrigen Seiten des Ganzen, nicht nach ihrer wahren Begrenzung auftreten. Sie verhilft uns indeß dazu, uns Beckers Anschauung des Organischen zu ver- vollständigen. §. 4. Gegensatz des Organischen zum Künstlichen. So tritt nun gelegentlich (§. 6. Anf.) folgendes höchst wich- tige Moment hervor: „Als Product eines Organischen, welches nicht mit Willkür hervorgebracht ist, sondern sich mit einer in- neren Nothwendigkeit entwickelt hat, unterscheidet sich die Spra- che von jedem Werke menschlicher Erfindung und Kunst. Das Kunstwerk geht nicht mit innerer Nothwendigkeit aus dem Le- ben selbst hervor, sondern aus einer durch ein äußeres Bedürf- niß angeregten Reflexion. Es hat das Gesetz seiner Entwicke- lung und Gestaltung nicht in sich selbst, sondern empfängt es von der Intelligenz des Erfinders; und seine Einrichtung ist wandelbar, wie das Bedürfniß und die Erkenntniß des Künst- lers.“ Hieraus entnehmen wir, daß wenn organisch das Natür- liche ist, den Gegensatz dazu das mit Willkür Geschaffene bil- det, die Erfindung und Kunst des Menschen. Hier erkennt man aber auch sogleich alle Uebelstände, welche dem Herausgreifen einer Seite des Princips anzuhaften pflegen. Welche Berechti- gung hat dieser Gegensatz? Das geistige Leben gehört zum All, ist eine besondere Art, eine Lebensfunction des allgemeinen Lebens — wie spielt hier plötzlich das Unorganische hinein? wie ist Willkür, als Gegensatz zum Organischen, möglich? wo- her stammt im organischen All ein „äußeres Bedürfniß“? Das Kunstwerk habe das Gesetz seiner Entwickelung und Gestaltung nicht in sich, sondern empfange es von der Intelligenz des Er- finders; aber die Intelligenz, wie Becker so häufig wiederholt, ist organisch. Das Kunstwerk ist ein in der Materie verleib- lichter Begriff oder Gedanke, also ist es organisch; es geht al- lerdings „mit innerer Nothwendigkeit aus dem Leben selbst,“

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/43>, abgerufen am 28.03.2024.