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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Mittel und Zweck." So lose wird der so wichtige Zweckbegriff
eingeführt! durch ein bloßes "aber"! und mit diesem Satze er-
ledigt! Becker fährt conjunctionslos fort: "In der Lebensfunc-
tion (dem Begriff) des organischen Dinges liegen schon ur-
sprünglich alle Besonderheiten derselben, in dem Ganzen alle
besonderen Organe. Das organische Ding wird nicht durch eine
Zusammensetzung der Organe von außen, sondern durch eine
Entwickelung von innen. Das ganze Thier mit seinen man-
nigfaltigen Organen liegt schon vorgebildet in dem Ei" -- ein-
gebildet, möchte ich sagen. Welche Unklarheit verbirgt sich
hinter diesen Worten! Und abermals ohne Conjunction fährt Be-
cker fort: "In der besondern Lebensfunction (dem Begriffe, dem
specifischen Merkmale) des organischen Dinges und in den or-
ganischen Gegensätzen (z. B. Bewegung und Empfindung, Mus-
kel und Nerv) nach denen sich diese Function in besondere
Functionen scheidet, liegt das Gesetz seiner Entwickelung: dar-
um
geschieht jede organische Entwickelung mit innerer Noth-
wendigkeit." Eine solche Darstellung des Organischen kann man
doch wohl nur unorganisch nennen.

§. 3. Unbegrenztheit des Organischen bei Becker.

Wir könnten jedoch zufrieden sein, wenn uns nur Becker
hier überhaupt hinlängliche Merkmale angegeben hätte, um uns
einen so deutlichen und bestimmten Begriff bilden zu können,
daß wir zu sagen vermöchten, dies ist organisch, jenes nicht.
Das ist aber durchaus nicht der Fall. Wir erfahren nicht bloß
nicht, wo denn der Gegensatz zum Organischen liege, durch
welche andere Begriffe das Reich desselben begrenzt werde;
sondern wir sind auch in Verlegenheit, wenn wir dies etwa aus
dem von Becker Gesagten erschließen wollten. Denn ist die
Natur, das All organisch, so ist denn alles organisch, und es
giebt weder im Himmel noch auf Erden etwas Unorganisches.
Organisch wird gleichbedeutend mit natürlich; Unnatürliches aber
giebt es nirgends; nicht einmal der Unsinn wäre unnatürlich,
sondern bloß die Vorstellung des Unnatürlichen, Unorganischen
wäre Unsinn.

Sicherlich hatte Becker eine weit bestimmtere Vorstellung
vom Wesen des Organischen, als im Obigen liegt; aber ist es
denn gleichgültig, ob jemand sein Princip an der Stelle, wo er
es erörtert, wirklich bestimmt darstellt oder nach allen Seiten
unbegrenzt verschwimmen läßt? Wenn selbst hier, wo die ganze

Mittel und Zweck.“ So lose wird der so wichtige Zweckbegriff
eingeführt! durch ein bloßes „aber“! und mit diesem Satze er-
ledigt! Becker fährt conjunctionslos fort: „In der Lebensfunc-
tion (dem Begriff) des organischen Dinges liegen schon ur-
sprünglich alle Besonderheiten derselben, in dem Ganzen alle
besonderen Organe. Das organische Ding wird nicht durch eine
Zusammensetzung der Organe von außen, sondern durch eine
Entwickelung von innen. Das ganze Thier mit seinen man-
nigfaltigen Organen liegt schon vorgebildet in dem Ei“ — ein-
gebildet, möchte ich sagen. Welche Unklarheit verbirgt sich
hinter diesen Worten! Und abermals ohne Conjunction fährt Be-
cker fort: „In der besondern Lebensfunction (dem Begriffe, dem
specifischen Merkmale) des organischen Dinges und in den or-
ganischen Gegensätzen (z. B. Bewegung und Empfindung, Mus-
kel und Nerv) nach denen sich diese Function in besondere
Functionen scheidet, liegt das Gesetz seiner Entwickelung: dar-
um
geschieht jede organische Entwickelung mit innerer Noth-
wendigkeit.“ Eine solche Darstellung des Organischen kann man
doch wohl nur unorganisch nennen.

§. 3. Unbegrenztheit des Organischen bei Becker.

Wir könnten jedoch zufrieden sein, wenn uns nur Becker
hier überhaupt hinlängliche Merkmale angegeben hätte, um uns
einen so deutlichen und bestimmten Begriff bilden zu können,
daß wir zu sagen vermöchten, dies ist organisch, jenes nicht.
Das ist aber durchaus nicht der Fall. Wir erfahren nicht bloß
nicht, wo denn der Gegensatz zum Organischen liege, durch
welche andere Begriffe das Reich desselben begrenzt werde;
sondern wir sind auch in Verlegenheit, wenn wir dies etwa aus
dem von Becker Gesagten erschließen wollten. Denn ist die
Natur, das All organisch, so ist denn alles organisch, und es
giebt weder im Himmel noch auf Erden etwas Unorganisches.
Organisch wird gleichbedeutend mit natürlich; Unnatürliches aber
giebt es nirgends; nicht einmal der Unsinn wäre unnatürlich,
sondern bloß die Vorstellung des Unnatürlichen, Unorganischen
wäre Unsinn.

Sicherlich hatte Becker eine weit bestimmtere Vorstellung
vom Wesen des Organischen, als im Obigen liegt; aber ist es
denn gleichgültig, ob jemand sein Princip an der Stelle, wo er
es erörtert, wirklich bestimmt darstellt oder nach allen Seiten
unbegrenzt verschwimmen läßt? Wenn selbst hier, wo die ganze

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[4/0042] Mittel und Zweck.“ So lose wird der so wichtige Zweckbegriff eingeführt! durch ein bloßes „aber“! und mit diesem Satze er- ledigt! Becker fährt conjunctionslos fort: „In der Lebensfunc- tion (dem Begriff) des organischen Dinges liegen schon ur- sprünglich alle Besonderheiten derselben, in dem Ganzen alle besonderen Organe. Das organische Ding wird nicht durch eine Zusammensetzung der Organe von außen, sondern durch eine Entwickelung von innen. Das ganze Thier mit seinen man- nigfaltigen Organen liegt schon vorgebildet in dem Ei“ — ein- gebildet, möchte ich sagen. Welche Unklarheit verbirgt sich hinter diesen Worten! Und abermals ohne Conjunction fährt Be- cker fort: „In der besondern Lebensfunction (dem Begriffe, dem specifischen Merkmale) des organischen Dinges und in den or- ganischen Gegensätzen (z. B. Bewegung und Empfindung, Mus- kel und Nerv) nach denen sich diese Function in besondere Functionen scheidet, liegt das Gesetz seiner Entwickelung: dar- um geschieht jede organische Entwickelung mit innerer Noth- wendigkeit.“ Eine solche Darstellung des Organischen kann man doch wohl nur unorganisch nennen. §. 3. Unbegrenztheit des Organischen bei Becker. Wir könnten jedoch zufrieden sein, wenn uns nur Becker hier überhaupt hinlängliche Merkmale angegeben hätte, um uns einen so deutlichen und bestimmten Begriff bilden zu können, daß wir zu sagen vermöchten, dies ist organisch, jenes nicht. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Wir erfahren nicht bloß nicht, wo denn der Gegensatz zum Organischen liege, durch welche andere Begriffe das Reich desselben begrenzt werde; sondern wir sind auch in Verlegenheit, wenn wir dies etwa aus dem von Becker Gesagten erschließen wollten. Denn ist die Natur, das All organisch, so ist denn alles organisch, und es giebt weder im Himmel noch auf Erden etwas Unorganisches. Organisch wird gleichbedeutend mit natürlich; Unnatürliches aber giebt es nirgends; nicht einmal der Unsinn wäre unnatürlich, sondern bloß die Vorstellung des Unnatürlichen, Unorganischen wäre Unsinn. Sicherlich hatte Becker eine weit bestimmtere Vorstellung vom Wesen des Organischen, als im Obigen liegt; aber ist es denn gleichgültig, ob jemand sein Princip an der Stelle, wo er es erörtert, wirklich bestimmt darstellt oder nach allen Seiten unbegrenzt verschwimmen läßt? Wenn selbst hier, wo die ganze

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/42>, abgerufen am 18.04.2024.