nige, in welcher das instinctive Selbstbewußtsein die Anschauung auffaßt und dadurch zur Vorstellung umwandelt. Auf diesem Wandel der Anschauung in die Vorstellung beruht alle Sprache, und die Sprache bleibt immer auf ihn beschränkt. Sie geht also aller Logik voran; sie schafft ihre Formen vollständig, be- vor die Logik die ihrigen ausbildet. Sprache und Logik ent- wickeln ganz unabhängig von einander ihre Formen. Und es ist gar nicht wahr, daß die Sprache den Gedanken ausdrückt; sie bedeutet ihn wohl, aber drückt nur aus, was sie an der An- schauung erfaßt, und wie sie es erfaßt. Selbst insofern die Sprache den Begriff und das rein logische Urtheil darstellt, z. B. Gott ist absolut, geschieht dies nicht so, daß die Logik mit der Sprache unterhandelte: "dies soll ausgedrückt werden; es steht dir aber frei, es in einer beliebigen Weise zu thun: dies fordere ich; du magst es aber erfüllen, in welcher Form und Gestalt dir beliebt". Sondern die Sprache behandelt auch die ihr dar- gebotenen Begriffe wie die Anschauungen; d. h. die Begriffe werden Gegenstand des instinctiven Selbstbewußtseins, und die- ses erfaßt dieselben nach seiner Weise, wie es kann, unbeküm- mert um jede Forderung, in seiner naiven und durchaus indivi- duellen Weise. Das instinctive Selbstbewußtsein bildet sich selbst eine Logik, und in den verschiedenen Volksgeistern in verschiedener Weise. Folglich sind wir auch nicht im Stande, die verschiedenen Logiken, welche in den Sprachen liegen, sei es unter einander, oder mit unserer systematischen Logik zu vergleichen, wenn sich die Aehnlichkeit nicht von selbst voll- ständig darbietet.
Vergleichen freilich kann man alles: das beweisen Witz und Humor. Die vergleichende Wissenschaft aber will durch Ver- gleichung das Wesen der Dinge, ihr Werden, erkennen, und darf nicht in witzige Spielerei ausarten. Die comparative Ana- tomie war eine kurze Zeit solcher Gefahr ausgesetzt; jetzt ist sie längst überwunden. Man sieht ein, daß man die Constru- ction der Gliederthiere nicht besser begreift, wenn man, sie mit den Wirbelthieren vergleichend, annimmt que les Articules sont des Vertebres renverses sur le dos. Man hat freilich eine Ein- heit der menschlichen Hand und des Pferdehufes gefunden, wenn man sagt, sie seien beide das letzte Glied der vordern Extre- mitäten; aber was wird damit erkannt? Der Satz: ich werde von dir geliebt enthält eine Umkehrung der logischen Con-
nige, in welcher das instinctive Selbstbewußtsein die Anschauung auffaßt und dadurch zur Vorstellung umwandelt. Auf diesem Wandel der Anschauung in die Vorstellung beruht alle Sprache, und die Sprache bleibt immer auf ihn beschränkt. Sie geht also aller Logik voran; sie schafft ihre Formen vollständig, be- vor die Logik die ihrigen ausbildet. Sprache und Logik ent- wickeln ganz unabhängig von einander ihre Formen. Und es ist gar nicht wahr, daß die Sprache den Gedanken ausdrückt; sie bedeutet ihn wohl, aber drückt nur aus, was sie an der An- schauung erfaßt, und wie sie es erfaßt. Selbst insofern die Sprache den Begriff und das rein logische Urtheil darstellt, z. B. Gott ist absolut, geschieht dies nicht so, daß die Logik mit der Sprache unterhandelte: „dies soll ausgedrückt werden; es steht dir aber frei, es in einer beliebigen Weise zu thun: dies fordere ich; du magst es aber erfüllen, in welcher Form und Gestalt dir beliebt“. Sondern die Sprache behandelt auch die ihr dar- gebotenen Begriffe wie die Anschauungen; d. h. die Begriffe werden Gegenstand des instinctiven Selbstbewußtseins, und die- ses erfaßt dieselben nach seiner Weise, wie es kann, unbeküm- mert um jede Forderung, in seiner naiven und durchaus indivi- duellen Weise. Das instinctive Selbstbewußtsein bildet sich selbst eine Logik, und in den verschiedenen Volksgeistern in verschiedener Weise. Folglich sind wir auch nicht im Stande, die verschiedenen Logiken, welche in den Sprachen liegen, sei es unter einander, oder mit unserer systematischen Logik zu vergleichen, wenn sich die Aehnlichkeit nicht von selbst voll- ständig darbietet.
Vergleichen freilich kann man alles: das beweisen Witz und Humor. Die vergleichende Wissenschaft aber will durch Ver- gleichung das Wesen der Dinge, ihr Werden, erkennen, und darf nicht in witzige Spielerei ausarten. Die comparative Ana- tomie war eine kurze Zeit solcher Gefahr ausgesetzt; jetzt ist sie längst überwunden. Man sieht ein, daß man die Constru- ction der Gliederthiere nicht besser begreift, wenn man, sie mit den Wirbelthieren vergleichend, annimmt que les Articulés sont des Vertébrés renversés sur le dos. Man hat freilich eine Ein- heit der menschlichen Hand und des Pferdehufes gefunden, wenn man sagt, sie seien beide das letzte Glied der vordern Extre- mitäten; aber was wird damit erkannt? Der Satz: ich werde von dir geliebt enthält eine Umkehrung der logischen Con-
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nige, in welcher das instinctive Selbstbewußtsein die Anschauung
auffaßt und dadurch zur Vorstellung umwandelt. Auf diesem
Wandel der Anschauung in die Vorstellung beruht alle Sprache,
und die Sprache bleibt immer auf ihn beschränkt. Sie geht
also aller Logik voran; sie schafft ihre Formen vollständig, be-
vor die Logik die ihrigen ausbildet. Sprache und Logik ent-
wickeln ganz unabhängig von einander ihre Formen. Und es
ist gar nicht wahr, daß die Sprache den Gedanken ausdrückt;
sie bedeutet ihn wohl, aber drückt nur aus, was sie an der An-
schauung erfaßt, und wie sie es erfaßt. Selbst insofern die
Sprache den Begriff und das rein logische Urtheil darstellt, z. B.
Gott ist absolut, geschieht dies nicht so, daß die Logik mit der
Sprache unterhandelte: „dies soll ausgedrückt werden; es steht
dir aber frei, es in einer beliebigen Weise zu thun: dies fordere
ich; du magst es aber erfüllen, in welcher Form und Gestalt
dir beliebt“. Sondern die Sprache behandelt auch die ihr dar-
gebotenen Begriffe wie die Anschauungen; d. h. die Begriffe
werden Gegenstand des instinctiven Selbstbewußtseins, und die-
ses erfaßt dieselben nach seiner Weise, wie es kann, unbeküm-
mert um jede Forderung, in seiner naiven und durchaus indivi-
duellen Weise. Das instinctive Selbstbewußtsein bildet sich
selbst eine Logik, und in den verschiedenen Volksgeistern in
verschiedener Weise. Folglich sind wir auch nicht im Stande,
die verschiedenen Logiken, welche in den Sprachen liegen, sei
es unter einander, oder mit unserer systematischen Logik zu
vergleichen, wenn sich die Aehnlichkeit nicht von selbst voll-
ständig darbietet.
Vergleichen freilich kann man alles: das beweisen Witz und
Humor. Die vergleichende Wissenschaft aber will durch Ver-
gleichung das Wesen der Dinge, ihr Werden, erkennen, und
darf nicht in witzige Spielerei ausarten. Die comparative Ana-
tomie war eine kurze Zeit solcher Gefahr ausgesetzt; jetzt ist
sie längst überwunden. Man sieht ein, daß man die Constru-
ction der Gliederthiere nicht besser begreift, wenn man, sie mit
den Wirbelthieren vergleichend, annimmt que les Articulés sont
des Vertébrés renversés sur le dos. Man hat freilich eine Ein-
heit der menschlichen Hand und des Pferdehufes gefunden, wenn
man sagt, sie seien beide das letzte Glied der vordern Extre-
mitäten; aber was wird damit erkannt? Der Satz: ich werde
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/422>, abgerufen am 30.01.2025.
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