Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

cher Weise schmerzhaft, und nicht bloß unterscheidet er nicht
mehr Warmes und Kaltes, Stumpfes und Scharfes, sondern er
erkennt überhaupt nichts Aeußeres, weiß gar nichts vom Aeu-
ßeren, hat kein Object, sondern bleibt in sich versenkt. Wenn
ein krankes Glied gestochen oder geschnitten wird, so wird nur
der Schmerz gefühlt; aber das stechende, schneidende Instru-
ment wird nicht empfunden.

Bei den übrigen Sinnen ist die Unterscheidung von Gefühl
und Empfindung noch leichter. Das Sehen und ein Schmerz
oder sonstiges Gefühl im Auge, das Hören und ein Schmerz
im Ohre können nicht mit einander verwechselt werden.

Auch entspricht diesem Unterschiede zwischen Gefühl und
Empfindung die physiologische Organisation. Denn nicht bloß
das Gesicht, Gehör u. s. w. verlangt ein besonderes Organ, son-
dern auch der Tastsinn. Ein gesunder Nerv giebt dem Finger
wohl Gefühl, aber noch nicht Empfindung; dazu gehört eine
besondere Veranstaltung in der Haut. Gefühlsnerven sind überall
im Körper, Tastnerven nur auf der Oberfläche des Körpers, in
der Haut, und besonders zahlreich in den Lippen und Finger-
spitzen. Sobald also im Finger die Organe der Empfindung
abgestorben, zerstört oder überreizt, kurz irgendwie unthätig
gemacht worden sind, so bleibt das Gefühl noch immer leben-
dig; daher das Schmerzgefühl da eintritt, wo die Gefühlsem-
pfindung aufhört. Wenn also den untersten Thieren die Sinnes-
organe fehlen, so mögen sie noch immer das Licht, den Schall
als ein Gefühl dunkel wahrnehmen, aber die Empfindungen der
Farbe, des Tons können sie nicht haben.

Betrachten wir nun die Art und Weise, das innere Wesen
dieses Fortschrittes vom Gefühl zur Sinnesempfindung: so zei-
gen sich hier schon alle wichtigen Punkte, auf denen überhaupt
aller Fortschritt der Seelenentwicklung beruht. Gehen wir aus
von dem wesentlichsten, auch schon ausgesprochenen, Unter-
schiede, daß das Gefühl nur einen subjectiven Zustand andeu-
tet, die Sinneserregung aber Erkenntniß eines Aeußern gewährt,
das sich allmählich zur geistigen oder ideellen Construction ei-
ner Außenwelt entwickelt. Worauf beruht dies? Unser Tast-
sinn sagt uns, ob ein Werkzeug scharf oder stumpf oder spitz
ist; dringt aber das Werkzeug in den Finger ein, so haben wir
einen Schmerz, der an sich nicht über die Eigenschaft des
schmerzerregenden Mittels belehrt. Wir fühlen, ob die uns um-

cher Weise schmerzhaft, und nicht bloß unterscheidet er nicht
mehr Warmes und Kaltes, Stumpfes und Scharfes, sondern er
erkennt überhaupt nichts Aeußeres, weiß gar nichts vom Aeu-
ßeren, hat kein Object, sondern bleibt in sich versenkt. Wenn
ein krankes Glied gestochen oder geschnitten wird, so wird nur
der Schmerz gefühlt; aber das stechende, schneidende Instru-
ment wird nicht empfunden.

Bei den übrigen Sinnen ist die Unterscheidung von Gefühl
und Empfindung noch leichter. Das Sehen und ein Schmerz
oder sonstiges Gefühl im Auge, das Hören und ein Schmerz
im Ohre können nicht mit einander verwechselt werden.

Auch entspricht diesem Unterschiede zwischen Gefühl und
Empfindung die physiologische Organisation. Denn nicht bloß
das Gesicht, Gehör u. s. w. verlangt ein besonderes Organ, son-
dern auch der Tastsinn. Ein gesunder Nerv giebt dem Finger
wohl Gefühl, aber noch nicht Empfindung; dazu gehört eine
besondere Veranstaltung in der Haut. Gefühlsnerven sind überall
im Körper, Tastnerven nur auf der Oberfläche des Körpers, in
der Haut, und besonders zahlreich in den Lippen und Finger-
spitzen. Sobald also im Finger die Organe der Empfindung
abgestorben, zerstört oder überreizt, kurz irgendwie unthätig
gemacht worden sind, so bleibt das Gefühl noch immer leben-
dig; daher das Schmerzgefühl da eintritt, wo die Gefühlsem-
pfindung aufhört. Wenn also den untersten Thieren die Sinnes-
organe fehlen, so mögen sie noch immer das Licht, den Schall
als ein Gefühl dunkel wahrnehmen, aber die Empfindungen der
Farbe, des Tons können sie nicht haben.

Betrachten wir nun die Art und Weise, das innere Wesen
dieses Fortschrittes vom Gefühl zur Sinnesempfindung: so zei-
gen sich hier schon alle wichtigen Punkte, auf denen überhaupt
aller Fortschritt der Seelenentwicklung beruht. Gehen wir aus
von dem wesentlichsten, auch schon ausgesprochenen, Unter-
schiede, daß das Gefühl nur einen subjectiven Zustand andeu-
tet, die Sinneserregung aber Erkenntniß eines Aeußern gewährt,
das sich allmählich zur geistigen oder ideellen Construction ei-
ner Außenwelt entwickelt. Worauf beruht dies? Unser Tast-
sinn sagt uns, ob ein Werkzeug scharf oder stumpf oder spitz
ist; dringt aber das Werkzeug in den Finger ein, so haben wir
einen Schmerz, der an sich nicht über die Eigenschaft des
schmerzerregenden Mittels belehrt. Wir fühlen, ob die uns um-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0275" n="237"/>
cher Weise schmerzhaft, und nicht bloß unterscheidet er nicht<lb/>
mehr Warmes und Kaltes, Stumpfes und Scharfes, sondern er<lb/>
erkennt überhaupt nichts Aeußeres, weiß gar nichts vom Aeu-<lb/>
ßeren, hat kein Object, sondern bleibt in sich versenkt. Wenn<lb/>
ein krankes Glied gestochen oder geschnitten wird, so wird nur<lb/>
der Schmerz gefühlt; aber das stechende, schneidende Instru-<lb/>
ment wird nicht empfunden.</p><lb/>
                <p>Bei den übrigen Sinnen ist die Unterscheidung von Gefühl<lb/>
und Empfindung noch leichter. Das Sehen und ein Schmerz<lb/>
oder sonstiges Gefühl im Auge, das Hören und ein Schmerz<lb/>
im Ohre können nicht mit einander verwechselt werden.</p><lb/>
                <p>Auch entspricht diesem Unterschiede zwischen Gefühl und<lb/>
Empfindung die physiologische Organisation. Denn nicht bloß<lb/>
das Gesicht, Gehör u. s. w. verlangt ein besonderes Organ, son-<lb/>
dern auch der Tastsinn. Ein gesunder Nerv giebt dem Finger<lb/>
wohl Gefühl, aber noch nicht Empfindung; dazu gehört eine<lb/>
besondere Veranstaltung in der Haut. Gefühlsnerven sind überall<lb/>
im Körper, Tastnerven nur auf der Oberfläche des Körpers, in<lb/>
der Haut, und besonders zahlreich in den Lippen und Finger-<lb/>
spitzen. Sobald also im Finger die Organe der Empfindung<lb/>
abgestorben, zerstört oder überreizt, kurz irgendwie unthätig<lb/>
gemacht worden sind, so bleibt das Gefühl noch immer leben-<lb/>
dig; daher das Schmerzgefühl da eintritt, wo die Gefühlsem-<lb/>
pfindung aufhört. Wenn also den untersten Thieren die Sinnes-<lb/>
organe fehlen, so mögen sie noch immer das Licht, den Schall<lb/>
als ein Gefühl dunkel wahrnehmen, aber die Empfindungen der<lb/>
Farbe, des Tons können sie nicht haben.</p><lb/>
                <p>Betrachten wir nun die Art und Weise, das innere Wesen<lb/>
dieses Fortschrittes vom Gefühl zur Sinnesempfindung: so zei-<lb/>
gen sich hier schon alle wichtigen Punkte, auf denen überhaupt<lb/>
aller Fortschritt der Seelenentwicklung beruht. Gehen wir aus<lb/>
von dem wesentlichsten, auch schon ausgesprochenen, Unter-<lb/>
schiede, daß das Gefühl nur einen subjectiven Zustand andeu-<lb/>
tet, die Sinneserregung aber Erkenntniß eines Aeußern gewährt,<lb/>
das sich allmählich zur geistigen oder ideellen Construction ei-<lb/>
ner Außenwelt entwickelt. Worauf beruht dies? Unser Tast-<lb/>
sinn sagt uns, ob ein Werkzeug scharf oder stumpf oder spitz<lb/>
ist; dringt aber das Werkzeug in den Finger ein, so haben wir<lb/>
einen Schmerz, der an sich nicht über die Eigenschaft des<lb/>
schmerzerregenden Mittels belehrt. Wir fühlen, ob die uns um-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[237/0275] cher Weise schmerzhaft, und nicht bloß unterscheidet er nicht mehr Warmes und Kaltes, Stumpfes und Scharfes, sondern er erkennt überhaupt nichts Aeußeres, weiß gar nichts vom Aeu- ßeren, hat kein Object, sondern bleibt in sich versenkt. Wenn ein krankes Glied gestochen oder geschnitten wird, so wird nur der Schmerz gefühlt; aber das stechende, schneidende Instru- ment wird nicht empfunden. Bei den übrigen Sinnen ist die Unterscheidung von Gefühl und Empfindung noch leichter. Das Sehen und ein Schmerz oder sonstiges Gefühl im Auge, das Hören und ein Schmerz im Ohre können nicht mit einander verwechselt werden. Auch entspricht diesem Unterschiede zwischen Gefühl und Empfindung die physiologische Organisation. Denn nicht bloß das Gesicht, Gehör u. s. w. verlangt ein besonderes Organ, son- dern auch der Tastsinn. Ein gesunder Nerv giebt dem Finger wohl Gefühl, aber noch nicht Empfindung; dazu gehört eine besondere Veranstaltung in der Haut. Gefühlsnerven sind überall im Körper, Tastnerven nur auf der Oberfläche des Körpers, in der Haut, und besonders zahlreich in den Lippen und Finger- spitzen. Sobald also im Finger die Organe der Empfindung abgestorben, zerstört oder überreizt, kurz irgendwie unthätig gemacht worden sind, so bleibt das Gefühl noch immer leben- dig; daher das Schmerzgefühl da eintritt, wo die Gefühlsem- pfindung aufhört. Wenn also den untersten Thieren die Sinnes- organe fehlen, so mögen sie noch immer das Licht, den Schall als ein Gefühl dunkel wahrnehmen, aber die Empfindungen der Farbe, des Tons können sie nicht haben. Betrachten wir nun die Art und Weise, das innere Wesen dieses Fortschrittes vom Gefühl zur Sinnesempfindung: so zei- gen sich hier schon alle wichtigen Punkte, auf denen überhaupt aller Fortschritt der Seelenentwicklung beruht. Gehen wir aus von dem wesentlichsten, auch schon ausgesprochenen, Unter- schiede, daß das Gefühl nur einen subjectiven Zustand andeu- tet, die Sinneserregung aber Erkenntniß eines Aeußern gewährt, das sich allmählich zur geistigen oder ideellen Construction ei- ner Außenwelt entwickelt. Worauf beruht dies? Unser Tast- sinn sagt uns, ob ein Werkzeug scharf oder stumpf oder spitz ist; dringt aber das Werkzeug in den Finger ein, so haben wir einen Schmerz, der an sich nicht über die Eigenschaft des schmerzerregenden Mittels belehrt. Wir fühlen, ob die uns um-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/275
Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/275>, abgerufen am 23.11.2024.