Kritik kennte, hätte er sich nicht fragen müssen, warum sind denn diese falschen Theorien Jahrhunderte lang festgehalten wor- den? Denn wenn Hr. Aufrecht nicht so abstract, d. h. einsei- tig wäre, wenn er die Sachen concret, d. h. in ihrer Totalität, allseitig, anzuschauen fähig wäre, so würde er gesehen haben, daß die falschen Theorien nicht die Ursache, sondern der That- bestand selbst der gehemmten Wissenschaften waren und sind, welcher Thatbestand nun eben erst Erklärung verlangt, aber nicht durch die Theorien selbst erklärt werden kann, weil dies ein idem per idem wäre.
Wenn man sich auf die Naturforscher berufen will, so muß man sie besser kennen als Hr. Aufrecht sie zu kennen scheint, der z. B. übersehen oder nicht beherzigt hat, was der Physiologe Johannes Müller, der doch gewiß "das Erfahrungsmäßige in der Physiologie zum Bewußtsein gebracht hat" (Hand- buch der Physiologie des Menschen *) II. S. 522) sagt: "Die wichtigsten Wahrheiten in den Naturwissenschaften sind we- der allein durch Zergliederung der Begriffe der Philosophie, noch allein durch bloßes Erfahren gefunden worden, sondern durch eine denkende Erfahrung ... eine philosophische Er- fahrung. In allen Wissenschaften kommen Begriffe vor, denn sie sind das wirklich vorhandene Allgemeine, was durch die Sinne selbst nicht mehr erfahren, sondern durch den Geist ab- strahirt wird... aber so weit Begriffe in einer Wissenschaft vor- kommen, aus welchen Erscheinungen abgeleitet wer- den, so weit ist sie auch philosophisch."
Auch Schleiden mögen diejenigen, die ihn für eine hohe Autorität halten, erst recht verstehen lernen; sie mögen von ihm hören (Botanik 1849 I. S. 7): "Nun aber hat umgekehrt die Na- turwissenschaft erst wieder von der Philosophie zu empfangen." -- (S. 8): "Hier versteckt sich die empirische Unfähigkeit immer hinter die Vieldeutigkeit unbestimmter und mangelhafte[r] Abstraction, über welche die gesunde Empirie selbst keine Mach[t]
*) Der zweite Band des oben citirten Werkes hat bekanntlich nur eine Auflage. Für den ersten Band haben wir im Laufe unseres Buches immer die dritte Auflage benutzt.
Kritik kennte, hätte er sich nicht fragen müssen, warum sind denn diese falschen Theorien Jahrhunderte lang festgehalten wor- den? Denn wenn Hr. Aufrecht nicht so abstract, d. h. einsei- tig wäre, wenn er die Sachen concret, d. h. in ihrer Totalität, allseitig, anzuschauen fähig wäre, so würde er gesehen haben, daß die falschen Theorien nicht die Ursache, sondern der That- bestand selbst der gehemmten Wissenschaften waren und sind, welcher Thatbestand nun eben erst Erklärung verlangt, aber nicht durch die Theorien selbst erklärt werden kann, weil dies ein idem per idem wäre.
Wenn man sich auf die Naturforscher berufen will, so muß man sie besser kennen als Hr. Aufrecht sie zu kennen scheint, der z. B. übersehen oder nicht beherzigt hat, was der Physiologe Johannes Müller, der doch gewiß „das Erfahrungsmäßige in der Physiologie zum Bewußtsein gebracht hat“ (Hand- buch der Physiologie des Menschen *) II. S. 522) sagt: „Die wichtigsten Wahrheiten in den Naturwissenschaften sind we- der allein durch Zergliederung der Begriffe der Philosophie, noch allein durch bloßes Erfahren gefunden worden, sondern durch eine denkende Erfahrung … eine philosophische Er- fahrung. In allen Wissenschaften kommen Begriffe vor, denn sie sind das wirklich vorhandene Allgemeine, was durch die Sinne selbst nicht mehr erfahren, sondern durch den Geist ab- strahirt wird… aber so weit Begriffe in einer Wissenschaft vor- kommen, aus welchen Erscheinungen abgeleitet wer- den, so weit ist sie auch philosophisch.“
Auch Schleiden mögen diejenigen, die ihn für eine hohe Autorität halten, erst recht verstehen lernen; sie mögen von ihm hören (Botanik 1849 I. S. 7): „Nun aber hat umgekehrt die Na- turwissenschaft erst wieder von der Philosophie zu empfangen.“ — (S. 8): „Hier versteckt sich die empirische Unfähigkeit immer hinter die Vieldeutigkeit unbestimmter und mangelhafte[r] Abstraction, über welche die gesunde Empirie selbst keine Mach[t]
*) Der zweite Band des oben citirten Werkes hat bekanntlich nur eine Auflage. Für den ersten Band haben wir im Laufe unseres Buches immer die dritte Auflage benutzt.
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[XVI/0022]
Kritik kennte, hätte er sich nicht fragen müssen, warum sind
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tig wäre, wenn er die Sachen concret, d. h. in ihrer Totalität,
allseitig, anzuschauen fähig wäre, so würde er gesehen haben,
daß die falschen Theorien nicht die Ursache, sondern der That-
bestand selbst der gehemmten Wissenschaften waren und sind,
welcher Thatbestand nun eben erst Erklärung verlangt, aber
nicht durch die Theorien selbst erklärt werden kann, weil dies
ein idem per idem wäre.
Wenn man sich auf die Naturforscher berufen will, so muß
man sie besser kennen als Hr. Aufrecht sie zu kennen scheint,
der z. B. übersehen oder nicht beherzigt hat, was der Physiologe
Johannes Müller, der doch gewiß „das Erfahrungsmäßige
in der Physiologie zum Bewußtsein gebracht hat“ (Hand-
buch der Physiologie des Menschen *) II. S. 522) sagt: „Die
wichtigsten Wahrheiten in den Naturwissenschaften sind we-
der allein durch Zergliederung der Begriffe der Philosophie,
noch allein durch bloßes Erfahren gefunden worden, sondern
durch eine denkende Erfahrung … eine philosophische Er-
fahrung. In allen Wissenschaften kommen Begriffe vor, denn
sie sind das wirklich vorhandene Allgemeine, was durch die
Sinne selbst nicht mehr erfahren, sondern durch den Geist ab-
strahirt wird… aber so weit Begriffe in einer Wissenschaft vor-
kommen, aus welchen Erscheinungen abgeleitet wer-
den, so weit ist sie auch philosophisch.“
Auch Schleiden mögen diejenigen, die ihn für eine hohe
Autorität halten, erst recht verstehen lernen; sie mögen von ihm
hören (Botanik 1849 I. S. 7): „Nun aber hat umgekehrt die Na-
turwissenschaft erst wieder von der Philosophie zu empfangen.“
— (S. 8): „Hier versteckt sich die empirische Unfähigkeit
immer hinter die Vieldeutigkeit unbestimmter und mangelhafter
Abstraction, über welche die gesunde Empirie selbst keine Macht
*) Der zweite Band des oben citirten Werkes hat bekanntlich nur eine
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. XVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/22>, abgerufen am 21.11.2024.
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