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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Dinges noch nicht klar geworden; aber sehr oft wird uns ein
lange Zeit dunkeler Begriff, wie mit einem Schlage, klar, wenn
wir zufällig den rechten Namen finden" (das rechte Wort, die
gehörigen Sylben geschmiedet haben! Der Denker aber sucht
nicht den Namen, sondern die Kategorie des Ganzen und die
Beziehungen seiner Theile, was sich allerdings alles an Laute,
wenigstens meist, anschließt und immer anschließen kann).
"Endlich" (heißt das drittens? viertens? fünftens u. s. w.? nein!
zweitens! denke ich) "gehört hierher, daß nicht ausgespro-
chene
Begriffe und Gedanken oft lange Zeit in dem Geiste
gleichsam schlummern, als seien sie nicht vorhanden; aber ein-
mal ausgesprochen üben sie plötzlich über das Urtheil und
die Handlung einzelner Menschen und ganzer Völker eine un-
widerstehliche Gewalt aus." Das heißt denn doch die Schöpfer-
kraft großer Männer herabsetzen -- oder vielmehr nicht begrei-
fen. Das wären die Heroen der Geschichte der Menschheit,
Wecker schlummernder Gedanken? weiter nichts? Plato hätte
die schlummernden Ideen bloß geweckt? Kant die schlummernde
Kritik des Geistes geweckt? O nein, geschaffen haben sie die
Gedanken, neu, ursprünglich. Man sagt wohl, die Flamme
schlummre im Holze, und das mag man geistreich finden. In
Wahrheit aber ist doch die Flamme, die man schlummernd
nennt, gar nicht vorhanden: man kann sie erzeugen, wenn man
die noch fehlenden Bedingungen, unter denen sie entsteht, zum
Holze hinzubringt. So haben die großen Männer in noch viel
höherem Grade nicht schlummernde Gedanken, die also doch
schon vorhanden gewesen wären, bloß geweckt, sondern nicht-
vorhandene erzeugt, indem sie zu den vorhandenen etwas eige-
nes, sei es auch nur eine eigene Combination derselben hinzu-
brachten. Und auch dies zeigt die Zusammenhangslosigkeit von
Sprechen und Denken; denn mit dem alten Laute wird der
neue Begriff ausgesprochen.

Wenn sich ferner bei Kindern Sprache und Gedanke glei-
chen Schrittes entwickeln, so folgt daraus eben so wenig ihre
Identität, wie Becker meint, als die Identität von Seele und
Leib, oder von Physiologie und physikalischer Optik daraus,
daß beide sich gleichen Schrittes entwickeln.

Eine sehr innige Beziehung des Denkens zum Sprechen,
eine viel innigere als zu jedem andern Zeichen, eine von Natur
selbst gesetzte, wird nicht geläugnet und wird später dargestellt

Dinges noch nicht klar geworden; aber sehr oft wird uns ein
lange Zeit dunkeler Begriff, wie mit einem Schlage, klar, wenn
wir zufällig den rechten Namen finden“ (das rechte Wort, die
gehörigen Sylben geschmiedet haben! Der Denker aber sucht
nicht den Namen, sondern die Kategorie des Ganzen und die
Beziehungen seiner Theile, was sich allerdings alles an Laute,
wenigstens meist, anschließt und immer anschließen kann).
„Endlich“ (heißt das drittens? viertens? fünftens u. s. w.? nein!
zweitens! denke ich) „gehört hierher, daß nicht ausgespro-
chene
Begriffe und Gedanken oft lange Zeit in dem Geiste
gleichsam schlummern, als seien sie nicht vorhanden; aber ein-
mal ausgesprochen üben sie plötzlich über das Urtheil und
die Handlung einzelner Menschen und ganzer Völker eine un-
widerstehliche Gewalt aus.“ Das heißt denn doch die Schöpfer-
kraft großer Männer herabsetzen — oder vielmehr nicht begrei-
fen. Das wären die Heroen der Geschichte der Menschheit,
Wecker schlummernder Gedanken? weiter nichts? Plato hätte
die schlummernden Ideen bloß geweckt? Kant die schlummernde
Kritik des Geistes geweckt? O nein, geschaffen haben sie die
Gedanken, neu, ursprünglich. Man sagt wohl, die Flamme
schlummre im Holze, und das mag man geistreich finden. In
Wahrheit aber ist doch die Flamme, die man schlummernd
nennt, gar nicht vorhanden: man kann sie erzeugen, wenn man
die noch fehlenden Bedingungen, unter denen sie entsteht, zum
Holze hinzubringt. So haben die großen Männer in noch viel
höherem Grade nicht schlummernde Gedanken, die also doch
schon vorhanden gewesen wären, bloß geweckt, sondern nicht-
vorhandene erzeugt, indem sie zu den vorhandenen etwas eige-
nes, sei es auch nur eine eigene Combination derselben hinzu-
brachten. Und auch dies zeigt die Zusammenhangslosigkeit von
Sprechen und Denken; denn mit dem alten Laute wird der
neue Begriff ausgesprochen.

Wenn sich ferner bei Kindern Sprache und Gedanke glei-
chen Schrittes entwickeln, so folgt daraus eben so wenig ihre
Identität, wie Becker meint, als die Identität von Seele und
Leib, oder von Physiologie und physikalischer Optik daraus,
daß beide sich gleichen Schrittes entwickeln.

Eine sehr innige Beziehung des Denkens zum Sprechen,
eine viel innigere als zu jedem andern Zeichen, eine von Natur
selbst gesetzte, wird nicht geläugnet und wird später dargestellt

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[160/0198] Dinges noch nicht klar geworden; aber sehr oft wird uns ein lange Zeit dunkeler Begriff, wie mit einem Schlage, klar, wenn wir zufällig den rechten Namen finden“ (das rechte Wort, die gehörigen Sylben geschmiedet haben! Der Denker aber sucht nicht den Namen, sondern die Kategorie des Ganzen und die Beziehungen seiner Theile, was sich allerdings alles an Laute, wenigstens meist, anschließt und immer anschließen kann). „Endlich“ (heißt das drittens? viertens? fünftens u. s. w.? nein! zweitens! denke ich) „gehört hierher, daß nicht ausgespro- chene Begriffe und Gedanken oft lange Zeit in dem Geiste gleichsam schlummern, als seien sie nicht vorhanden; aber ein- mal ausgesprochen üben sie plötzlich über das Urtheil und die Handlung einzelner Menschen und ganzer Völker eine un- widerstehliche Gewalt aus.“ Das heißt denn doch die Schöpfer- kraft großer Männer herabsetzen — oder vielmehr nicht begrei- fen. Das wären die Heroen der Geschichte der Menschheit, Wecker schlummernder Gedanken? weiter nichts? Plato hätte die schlummernden Ideen bloß geweckt? Kant die schlummernde Kritik des Geistes geweckt? O nein, geschaffen haben sie die Gedanken, neu, ursprünglich. Man sagt wohl, die Flamme schlummre im Holze, und das mag man geistreich finden. In Wahrheit aber ist doch die Flamme, die man schlummernd nennt, gar nicht vorhanden: man kann sie erzeugen, wenn man die noch fehlenden Bedingungen, unter denen sie entsteht, zum Holze hinzubringt. So haben die großen Männer in noch viel höherem Grade nicht schlummernde Gedanken, die also doch schon vorhanden gewesen wären, bloß geweckt, sondern nicht- vorhandene erzeugt, indem sie zu den vorhandenen etwas eige- nes, sei es auch nur eine eigene Combination derselben hinzu- brachten. Und auch dies zeigt die Zusammenhangslosigkeit von Sprechen und Denken; denn mit dem alten Laute wird der neue Begriff ausgesprochen. Wenn sich ferner bei Kindern Sprache und Gedanke glei- chen Schrittes entwickeln, so folgt daraus eben so wenig ihre Identität, wie Becker meint, als die Identität von Seele und Leib, oder von Physiologie und physikalischer Optik daraus, daß beide sich gleichen Schrittes entwickeln. Eine sehr innige Beziehung des Denkens zum Sprechen, eine viel innigere als zu jedem andern Zeichen, eine von Natur selbst gesetzte, wird nicht geläugnet und wird später dargestellt

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/198>, abgerufen am 04.05.2024.