verschmolzen, wie bei uns der Laut, die Articulation; was darauf führt, auch die Verbindung der Articulation mit dem Denken als den Erfolg einer Gewohnheit anzusehen. Späterhin freilich werden wir sehen, daß zwischen Gewohnheit und Ge- wohnheit ein Unterschied ist, daß nämlich die eine von der Natur vorgezeichnet und angeordnet, die andere nur zum Ersatz angenommen ist. Hier aber war zu zeigen, daß die behauptete Unzertrennlichkeit von Denken und Sprechen eine Ueber- treibung ist, und daß der Mensch nicht im Laute und durch Laute denke, sondern an und in Begleitung von Lauten. Denn weder ist die Wirklichkeit des Denkens von dieser An- knüpfung desselben an den Laut durchaus abhängig und ohne sie unmöglich, noch wird durch ihre Aneinanderknüpfung Wort und Begriff, Sprache und Gedanke identisch.
Es ist eine schlechte Ausrede, zu behaupten, das lautlose Denken sei unorganisch. Denn erstlich das Denken als An- schauung, als Bildschöpfung, ist ohne Zeichen durchaus orga- nisch. Das algebraische Denken ferner ist eine ganz nothwen- dige, also organische Stufe in der organischen Entwickelung des menschlichen Geistes, auf welche Stufe derselbe in ganz orga- nischer Weise seiner organischen Natur nach gelangen muß. Endlich aber, wäre der Laut dem Denken so organisch noth- wendig, wie ein Leib der Seele, ein Stoff der Kraft: so müßte die Trennung des Lautes vom Denken für beide eben so zer- störend und tödtlich wirken, wie die Trennung des Leibes von der Seele, oder so unmöglich sein, wie die des Stoffes von der Kraft. Das ist aber nicht der Fall; sondern es findet das Wun- der Statt, daß das Denken, obwohl unorganisch, doch fortlebt -- gewiß eine wunderliche Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit des Gedankens.
Ich will zu den oben angeführten Beispielen des Denkens mit Zeichen noch ein höchst merkwürdiges hinzufügen, wo man nicht aus dem Mangel eines Sinnesorganes und nicht bloß zu be- schränkten Zwecken, zu wissenschaftlichen Formeln, sondern wo ein Volk zur Darstellung von Gedanken sich schriftlicher Zei- chen bedient. Dies geschieht in China. Kein Chinese ist im Stande, im alten erhabenen Style abgefaßte Schriftstücke, die man ihm vorliest, durch bloßes Hören aufzufassen. Dies ist eine vielfach versicherte und für den Kenner des Chinesischen leicht begreifliche Thatsache. Diese chinesische Literatur alten
verschmolzen, wie bei uns der Laut, die Articulation; was darauf führt, auch die Verbindung der Articulation mit dem Denken als den Erfolg einer Gewohnheit anzusehen. Späterhin freilich werden wir sehen, daß zwischen Gewohnheit und Ge- wohnheit ein Unterschied ist, daß nämlich die eine von der Natur vorgezeichnet und angeordnet, die andere nur zum Ersatz angenommen ist. Hier aber war zu zeigen, daß die behauptete Unzertrennlichkeit von Denken und Sprechen eine Ueber- treibung ist, und daß der Mensch nicht im Laute und durch Laute denke, sondern an und in Begleitung von Lauten. Denn weder ist die Wirklichkeit des Denkens von dieser An- knüpfung desselben an den Laut durchaus abhängig und ohne sie unmöglich, noch wird durch ihre Aneinanderknüpfung Wort und Begriff, Sprache und Gedanke identisch.
Es ist eine schlechte Ausrede, zu behaupten, das lautlose Denken sei unorganisch. Denn erstlich das Denken als An- schauung, als Bildschöpfung, ist ohne Zeichen durchaus orga- nisch. Das algebraische Denken ferner ist eine ganz nothwen- dige, also organische Stufe in der organischen Entwickelung des menschlichen Geistes, auf welche Stufe derselbe in ganz orga- nischer Weise seiner organischen Natur nach gelangen muß. Endlich aber, wäre der Laut dem Denken so organisch noth- wendig, wie ein Leib der Seele, ein Stoff der Kraft: so müßte die Trennung des Lautes vom Denken für beide eben so zer- störend und tödtlich wirken, wie die Trennung des Leibes von der Seele, oder so unmöglich sein, wie die des Stoffes von der Kraft. Das ist aber nicht der Fall; sondern es findet das Wun- der Statt, daß das Denken, obwohl unorganisch, doch fortlebt — gewiß eine wunderliche Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit des Gedankens.
Ich will zu den oben angeführten Beispielen des Denkens mit Zeichen noch ein höchst merkwürdiges hinzufügen, wo man nicht aus dem Mangel eines Sinnesorganes und nicht bloß zu be- schränkten Zwecken, zu wissenschaftlichen Formeln, sondern wo ein Volk zur Darstellung von Gedanken sich schriftlicher Zei- chen bedient. Dies geschieht in China. Kein Chinese ist im Stande, im alten erhabenen Style abgefaßte Schriftstücke, die man ihm vorliest, durch bloßes Hören aufzufassen. Dies ist eine vielfach versicherte und für den Kenner des Chinesischen leicht begreifliche Thatsache. Diese chinesische Literatur alten
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verschmolzen, wie bei uns der Laut, die Articulation; was
darauf führt, auch die Verbindung der Articulation mit dem
Denken als den Erfolg einer Gewohnheit anzusehen. Späterhin
freilich werden wir sehen, daß zwischen Gewohnheit und Ge-
wohnheit ein Unterschied ist, daß nämlich die eine von der
Natur vorgezeichnet und angeordnet, die andere nur zum Ersatz
angenommen ist. Hier aber war zu zeigen, daß die behauptete
Unzertrennlichkeit von Denken und Sprechen eine Ueber-
treibung ist, und daß der Mensch nicht im Laute und durch
Laute denke, sondern an und in Begleitung von Lauten.
Denn weder ist die Wirklichkeit des Denkens von dieser An-
knüpfung desselben an den Laut durchaus abhängig und ohne
sie unmöglich, noch wird durch ihre Aneinanderknüpfung Wort
und Begriff, Sprache und Gedanke identisch.
Es ist eine schlechte Ausrede, zu behaupten, das lautlose
Denken sei unorganisch. Denn erstlich das Denken als An-
schauung, als Bildschöpfung, ist ohne Zeichen durchaus orga-
nisch. Das algebraische Denken ferner ist eine ganz nothwen-
dige, also organische Stufe in der organischen Entwickelung des
menschlichen Geistes, auf welche Stufe derselbe in ganz orga-
nischer Weise seiner organischen Natur nach gelangen muß.
Endlich aber, wäre der Laut dem Denken so organisch noth-
wendig, wie ein Leib der Seele, ein Stoff der Kraft: so müßte
die Trennung des Lautes vom Denken für beide eben so zer-
störend und tödtlich wirken, wie die Trennung des Leibes von
der Seele, oder so unmöglich sein, wie die des Stoffes von der
Kraft. Das ist aber nicht der Fall; sondern es findet das Wun-
der Statt, daß das Denken, obwohl unorganisch, doch fortlebt
— gewiß eine wunderliche Unsterblichkeit und Unzerstörbarkeit
des Gedankens.
Ich will zu den oben angeführten Beispielen des Denkens mit
Zeichen noch ein höchst merkwürdiges hinzufügen, wo man nicht
aus dem Mangel eines Sinnesorganes und nicht bloß zu be-
schränkten Zwecken, zu wissenschaftlichen Formeln, sondern wo
ein Volk zur Darstellung von Gedanken sich schriftlicher Zei-
chen bedient. Dies geschieht in China. Kein Chinese ist im
Stande, im alten erhabenen Style abgefaßte Schriftstücke, die
man ihm vorliest, durch bloßes Hören aufzufassen. Dies ist
eine vielfach versicherte und für den Kenner des Chinesischen
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/194>, abgerufen am 27.11.2024.
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