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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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die Sprache zum Verständniß jener Formeln; aber das Ziel ist,
sie zu schauen, sie zu denken ohne Wort.

Wer eine Beethovensche Symphonie verfolgt, der denkt,
aber ohne Wort. Wer ein Gemälde betrachtet, die Gesichts-
züge eines Menschen, die Construction einer Maschine zu er-
fassen sucht: der denkt ohne Wort.

Wenn wir über eine Rinne schreiten, eine Treppe auf- oder
absteigen, ein Loth oder zehn Pfund heben oder niedersetzen:
so messen wir genau das Maß der anzuwendenden Kraft ab,
bestimmen auch die Richtung unserer Kraft, denken also, ohne
zu sprechen.

Hieraus folgt nun, daß die unterste Stufe des Denkens, das
Anschauen von äußern oder innern Bildern, des Wortes nicht
bedarf; daß das gewöhnliche Denken des gemeinen mensch-
lichen Lebens wenigstens thatsächlich und in der Regel an die
Sprache gebunden ist; daß aber endlich der Geist auf einer
höhern Stufe der Ausbildung sich von der Last des Lautes zu
befreien sucht. Nur irgend ein sinnliches Zeichen muß er auch
auf der höchsten Höhe haben als Stab und Stütze, als Leit-
faden; oder, nach einem andern Bilde, die Zeichen sind dem
Geiste, indem er dem Begriffe nachspürt, eingeschlagene Pfähle
an den Stellen, wo er die Fußstapfen des Begriffs erkannt hat,
um die Schritte und den Weg desselben um so leichter von
neuem durchlaufen zu können. Dazu ist ihm aber das Wort oft
zu grob, und er wählt statt dessen das algebraische Zeichen.
Auf der untersten Stufe des Denkens bedarf er des Zeichens
nicht; hier ist es die Anschauung selbst, die er will, die ihm
stehen soll. Nur im mittleren Denkreiche herrscht gewöhnlich
das Wort. Daß es aber auch hier eben nur ein Zeichen ist,
als Zeichen dient und keinen höhern Werth hat, zeigt sich daran,
daß es beim unterrichteten Taubstummen durch Fingersprache
und Schriftzeichen vollständig ersetzt wird. Auch ist für den
Taubstummen, der sich von Kindheit auf an ein künstliches Fin-
geralphabet gewöhnt hat, die Fingerbewegung fast eben so un-
zertrennlich vom Denken, eben so nothwendig für dasselbe ge-
worden, wie bei uns das Wort. In den Anstalten, in denen ein
Fingeralphabet als gewöhnliche Umgangssprache dient, hat man
bemerkt, daß die Taubstummen bei ihrem stillen Denken die
Finger bewegten. Auch im Traume thun sie es oft. Die Fin-
gerbewegung ist also bei ihnen eben so sehr mit dem Denken

die Sprache zum Verständniß jener Formeln; aber das Ziel ist,
sie zu schauen, sie zu denken ohne Wort.

Wer eine Beethovensche Symphonie verfolgt, der denkt,
aber ohne Wort. Wer ein Gemälde betrachtet, die Gesichts-
züge eines Menschen, die Construction einer Maschine zu er-
fassen sucht: der denkt ohne Wort.

Wenn wir über eine Rinne schreiten, eine Treppe auf- oder
absteigen, ein Loth oder zehn Pfund heben oder niedersetzen:
so messen wir genau das Maß der anzuwendenden Kraft ab,
bestimmen auch die Richtung unserer Kraft, denken also, ohne
zu sprechen.

Hieraus folgt nun, daß die unterste Stufe des Denkens, das
Anschauen von äußern oder innern Bildern, des Wortes nicht
bedarf; daß das gewöhnliche Denken des gemeinen mensch-
lichen Lebens wenigstens thatsächlich und in der Regel an die
Sprache gebunden ist; daß aber endlich der Geist auf einer
höhern Stufe der Ausbildung sich von der Last des Lautes zu
befreien sucht. Nur irgend ein sinnliches Zeichen muß er auch
auf der höchsten Höhe haben als Stab und Stütze, als Leit-
faden; oder, nach einem andern Bilde, die Zeichen sind dem
Geiste, indem er dem Begriffe nachspürt, eingeschlagene Pfähle
an den Stellen, wo er die Fußstapfen des Begriffs erkannt hat,
um die Schritte und den Weg desselben um so leichter von
neuem durchlaufen zu können. Dazu ist ihm aber das Wort oft
zu grob, und er wählt statt dessen das algebraische Zeichen.
Auf der untersten Stufe des Denkens bedarf er des Zeichens
nicht; hier ist es die Anschauung selbst, die er will, die ihm
stehen soll. Nur im mittleren Denkreiche herrscht gewöhnlich
das Wort. Daß es aber auch hier eben nur ein Zeichen ist,
als Zeichen dient und keinen höhern Werth hat, zeigt sich daran,
daß es beim unterrichteten Taubstummen durch Fingersprache
und Schriftzeichen vollständig ersetzt wird. Auch ist für den
Taubstummen, der sich von Kindheit auf an ein künstliches Fin-
geralphabet gewöhnt hat, die Fingerbewegung fast eben so un-
zertrennlich vom Denken, eben so nothwendig für dasselbe ge-
worden, wie bei uns das Wort. In den Anstalten, in denen ein
Fingeralphabet als gewöhnliche Umgangssprache dient, hat man
bemerkt, daß die Taubstummen bei ihrem stillen Denken die
Finger bewegten. Auch im Traume thun sie es oft. Die Fin-
gerbewegung ist also bei ihnen eben so sehr mit dem Denken

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[155/0193] die Sprache zum Verständniß jener Formeln; aber das Ziel ist, sie zu schauen, sie zu denken ohne Wort. Wer eine Beethovensche Symphonie verfolgt, der denkt, aber ohne Wort. Wer ein Gemälde betrachtet, die Gesichts- züge eines Menschen, die Construction einer Maschine zu er- fassen sucht: der denkt ohne Wort. Wenn wir über eine Rinne schreiten, eine Treppe auf- oder absteigen, ein Loth oder zehn Pfund heben oder niedersetzen: so messen wir genau das Maß der anzuwendenden Kraft ab, bestimmen auch die Richtung unserer Kraft, denken also, ohne zu sprechen. Hieraus folgt nun, daß die unterste Stufe des Denkens, das Anschauen von äußern oder innern Bildern, des Wortes nicht bedarf; daß das gewöhnliche Denken des gemeinen mensch- lichen Lebens wenigstens thatsächlich und in der Regel an die Sprache gebunden ist; daß aber endlich der Geist auf einer höhern Stufe der Ausbildung sich von der Last des Lautes zu befreien sucht. Nur irgend ein sinnliches Zeichen muß er auch auf der höchsten Höhe haben als Stab und Stütze, als Leit- faden; oder, nach einem andern Bilde, die Zeichen sind dem Geiste, indem er dem Begriffe nachspürt, eingeschlagene Pfähle an den Stellen, wo er die Fußstapfen des Begriffs erkannt hat, um die Schritte und den Weg desselben um so leichter von neuem durchlaufen zu können. Dazu ist ihm aber das Wort oft zu grob, und er wählt statt dessen das algebraische Zeichen. Auf der untersten Stufe des Denkens bedarf er des Zeichens nicht; hier ist es die Anschauung selbst, die er will, die ihm stehen soll. Nur im mittleren Denkreiche herrscht gewöhnlich das Wort. Daß es aber auch hier eben nur ein Zeichen ist, als Zeichen dient und keinen höhern Werth hat, zeigt sich daran, daß es beim unterrichteten Taubstummen durch Fingersprache und Schriftzeichen vollständig ersetzt wird. Auch ist für den Taubstummen, der sich von Kindheit auf an ein künstliches Fin- geralphabet gewöhnt hat, die Fingerbewegung fast eben so un- zertrennlich vom Denken, eben so nothwendig für dasselbe ge- worden, wie bei uns das Wort. In den Anstalten, in denen ein Fingeralphabet als gewöhnliche Umgangssprache dient, hat man bemerkt, daß die Taubstummen bei ihrem stillen Denken die Finger bewegten. Auch im Traume thun sie es oft. Die Fin- gerbewegung ist also bei ihnen eben so sehr mit dem Denken

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/193>, abgerufen am 26.11.2024.