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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Weise wie das Auge das verleiblichte Sehen ist? allerdings!
Daher müßten wir also sagen: wie der Mensch sieht, weil er
Augen hat, so spricht er -- nicht weil er denkt, sondern --
weil er Sprachwerkzeuge hat.

Ferner: oben sehen wir, wie Becker den Gedanken für den
Reiz der Sprachwerkzeuge zur Ausübung ihrer Function ansah.
Hier wird der Gedanke der Begriff der Sprache genannt, wie
das Sehen der Begriff des Auges. Ist nun auch das Sehen der
Reiz für die Thätigkeit des Auges?

So darf denn auch die Analogie zwischen sehen und spre-
chen gar nicht so ausgesprochen werden: der Mensch spricht,
weil er denkt, wie er sieht, weil er Augen hat; sondern: wie
er Augen hat, weil er sieht. Wie der Gedanke ferner die
Sprache schafft, so das Sehen das Auge, die Luft die Lunge.

Endlich: wo hat Becker das Gehirn gelassen? Das Gehirn
ist so sicher das Organ des Denkens, wie das Auge das des
Sehens. Hat also das Denken sein Organ, seine Verleiblichung
im Gehirn so gut wie jede andere Lebensfunction ihr physiolo-
gisches Organ, was wird nun aus der Sprache?

Wie wir oben sahen und bald noch mehr sehen werden,
daß bei Becker der Gegensatz zum bloßen Anderssein herab-
sinkt, seinen eigentlichen Gehalt verliert, daß die Dinge, ohne
Rücksicht auf ihr volles wirkliches Wesen nach subjectiven, un-
wesentlichen Beziehungen in die leere Form des Gegensatzes
gestellt werden; so sehen wir hier ganz verschiedene Verhält-
nisse in gleicher Weise in die Beziehung der Verleiblichung
versetzt, welche aber, um so Verschiedenartiges in sich aufneh-
men zu können, alles Inhalts beraubt werden mußte. So wur-
den schon am Anfange des Werkes (S. 2) in den Worten: "Es
ist ein allgemeines Gesetz der lebenden Natur, daß in ihr jede
Thätigkeit in einem Stoffe, jedes Geistige in einem Leiblichen
in die Erscheinung tritt", zwei so verschiedene Verhältnisse wie
das der Thätigkeit zum Stoffe und des Geistigen zum Leiblichen
gleichmäßig unter der leeren Beziehung des In-die-Erscheinung-
tretens zusammengefaßt. Und was soll es nur heißen: eine
Thätigkeit tritt in einem Stoffe in die Erscheinung? Ist etwa
Eisen verleiblichter Magnetismus, verleiblichte Schwere u. s. w.?

Diese elende Spielerei mit der Verleiblichung und Erschei-
nung haben wir auch außerdem schon in einer Stelle gefunden,
wo sie noch auffallender ist. Wenn wir nämlich in dem Werke

Weise wie das Auge das verleiblichte Sehen ist? allerdings!
Daher müßten wir also sagen: wie der Mensch sieht, weil er
Augen hat, so spricht er — nicht weil er denkt, sondern —
weil er Sprachwerkzeuge hat.

Ferner: oben sehen wir, wie Becker den Gedanken für den
Reiz der Sprachwerkzeuge zur Ausübung ihrer Function ansah.
Hier wird der Gedanke der Begriff der Sprache genannt, wie
das Sehen der Begriff des Auges. Ist nun auch das Sehen der
Reiz für die Thätigkeit des Auges?

So darf denn auch die Analogie zwischen sehen und spre-
chen gar nicht so ausgesprochen werden: der Mensch spricht,
weil er denkt, wie er sieht, weil er Augen hat; sondern: wie
er Augen hat, weil er sieht. Wie der Gedanke ferner die
Sprache schafft, so das Sehen das Auge, die Luft die Lunge.

Endlich: wo hat Becker das Gehirn gelassen? Das Gehirn
ist so sicher das Organ des Denkens, wie das Auge das des
Sehens. Hat also das Denken sein Organ, seine Verleiblichung
im Gehirn so gut wie jede andere Lebensfunction ihr physiolo-
gisches Organ, was wird nun aus der Sprache?

Wie wir oben sahen und bald noch mehr sehen werden,
daß bei Becker der Gegensatz zum bloßen Anderssein herab-
sinkt, seinen eigentlichen Gehalt verliert, daß die Dinge, ohne
Rücksicht auf ihr volles wirkliches Wesen nach subjectiven, un-
wesentlichen Beziehungen in die leere Form des Gegensatzes
gestellt werden; so sehen wir hier ganz verschiedene Verhält-
nisse in gleicher Weise in die Beziehung der Verleiblichung
versetzt, welche aber, um so Verschiedenartiges in sich aufneh-
men zu können, alles Inhalts beraubt werden mußte. So wur-
den schon am Anfange des Werkes (S. 2) in den Worten: „Es
ist ein allgemeines Gesetz der lebenden Natur, daß in ihr jede
Thätigkeit in einem Stoffe, jedes Geistige in einem Leiblichen
in die Erscheinung tritt“, zwei so verschiedene Verhältnisse wie
das der Thätigkeit zum Stoffe und des Geistigen zum Leiblichen
gleichmäßig unter der leeren Beziehung des In-die-Erscheinung-
tretens zusammengefaßt. Und was soll es nur heißen: eine
Thätigkeit tritt in einem Stoffe in die Erscheinung? Ist etwa
Eisen verleiblichter Magnetismus, verleiblichte Schwere u. s. w.?

Diese elende Spielerei mit der Verleiblichung und Erschei-
nung haben wir auch außerdem schon in einer Stelle gefunden,
wo sie noch auffallender ist. Wenn wir nämlich in dem Werke

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[77/0115] Weise wie das Auge das verleiblichte Sehen ist? allerdings! Daher müßten wir also sagen: wie der Mensch sieht, weil er Augen hat, so spricht er — nicht weil er denkt, sondern — weil er Sprachwerkzeuge hat. Ferner: oben sehen wir, wie Becker den Gedanken für den Reiz der Sprachwerkzeuge zur Ausübung ihrer Function ansah. Hier wird der Gedanke der Begriff der Sprache genannt, wie das Sehen der Begriff des Auges. Ist nun auch das Sehen der Reiz für die Thätigkeit des Auges? So darf denn auch die Analogie zwischen sehen und spre- chen gar nicht so ausgesprochen werden: der Mensch spricht, weil er denkt, wie er sieht, weil er Augen hat; sondern: wie er Augen hat, weil er sieht. Wie der Gedanke ferner die Sprache schafft, so das Sehen das Auge, die Luft die Lunge. Endlich: wo hat Becker das Gehirn gelassen? Das Gehirn ist so sicher das Organ des Denkens, wie das Auge das des Sehens. Hat also das Denken sein Organ, seine Verleiblichung im Gehirn so gut wie jede andere Lebensfunction ihr physiolo- gisches Organ, was wird nun aus der Sprache? Wie wir oben sahen und bald noch mehr sehen werden, daß bei Becker der Gegensatz zum bloßen Anderssein herab- sinkt, seinen eigentlichen Gehalt verliert, daß die Dinge, ohne Rücksicht auf ihr volles wirkliches Wesen nach subjectiven, un- wesentlichen Beziehungen in die leere Form des Gegensatzes gestellt werden; so sehen wir hier ganz verschiedene Verhält- nisse in gleicher Weise in die Beziehung der Verleiblichung versetzt, welche aber, um so Verschiedenartiges in sich aufneh- men zu können, alles Inhalts beraubt werden mußte. So wur- den schon am Anfange des Werkes (S. 2) in den Worten: „Es ist ein allgemeines Gesetz der lebenden Natur, daß in ihr jede Thätigkeit in einem Stoffe, jedes Geistige in einem Leiblichen in die Erscheinung tritt“, zwei so verschiedene Verhältnisse wie das der Thätigkeit zum Stoffe und des Geistigen zum Leiblichen gleichmäßig unter der leeren Beziehung des In-die-Erscheinung- tretens zusammengefaßt. Und was soll es nur heißen: eine Thätigkeit tritt in einem Stoffe in die Erscheinung? Ist etwa Eisen verleiblichter Magnetismus, verleiblichte Schwere u. s. w.? Diese elende Spielerei mit der Verleiblichung und Erschei- nung haben wir auch außerdem schon in einer Stelle gefunden, wo sie noch auffallender ist. Wenn wir nämlich in dem Werke

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/115>, abgerufen am 28.04.2024.