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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855.

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Gedanke den besondern Begriff des menschlichen Organismus
ausmacht, ist er in dem ganzen Organismus ausgeprägt, und
tritt auch in der besondern Bildung der Sinnesorgane, der Be-
wegungsorgane u. s. f. in die Erscheinung. Weil aber der Ge-
danke nicht ausschließlich den Begriff des Menschen ausmacht,
so treten in diesen Organen mehr die dem Menschen mit andern
Organismen gemeinsamen Functionen in die Erscheinung; und
nur die Sprache gehört ganz dem Gedanken als der obersten
Function des menschlichen Lebens an. Wie die besondere Func-
tion des Sehens in dem Auge, so stellt sich die Function des
Denkens in der Sprache als dem ihr eigenen Organe dar; und
wie das Sehen den Begriff des Auges, so macht der Gedanke
den Begriff der Sprache aus.... Zwar ist die Sprache nicht
an und für sich ein selbständiger Organism; als Erzeugniß des
menschlichen Organism hat sie nur innerhalb der Sphäre dieses
Organism ein Dasein. Aber wie jede besondere Function eines
organischen Ganzen sich in einem besondern Organe, z. B. die
Function des Sehens in dem Auge, verkörpert, und wie dieses
Organ für sich gewissermaßen einen geschlossenen Organism
ausmacht; so ist auch die Function des Sprechens in der ge-
sprochenen Sprache etwas Bleibendes -- gleichsam ein besonde-
res Organ des menschlichen Gattungsorganism -- geworden,
welches sich auch für sich als ein in allen seinen Theilen und
Verhältnissen organisch gegliedertes Ganze darstellt, und dem
selbständigen Organism nachgebildet ist: wie das Auge das Or-
gan für die natürliche Function des Sehens, so ist die Sprache
das Organ für die dem Menschen eben so natürliche Function
der Gedankendarstellung und Gedankenmittheilung." Aber beim
Herkules! vergißt denn Becker bei jeder Zeile, die er schreibt,
was er in der vorigen geschrieben hat! Haben wir hier nicht
die Zusammenstellung der Sprache mit dem Auge in demselben
Paragraphen, auf demselben Blatte zum dritten Male vor uns, im-
mer in derselben Wendung: "wie ... so"? Aber das Ganze ist
ja nichts als ein unorganisches Aneinanderschieben tautologischer
Sätze. Wo wäre denn hier etwas von Entwickelung? von vor-
schreitender Gedankenbewegung? Weiß man nun mehr, als was
schon in den ersten Zeilen des Buches gesagt ist: Die Sprache
ist "diejenige Verrichtung, in welcher der Gedanke in die
Erscheinung tritt"? Analogien sind noch gegeben, und recht
schiefe.

Gedanke den besondern Begriff des menschlichen Organismus
ausmacht, ist er in dem ganzen Organismus ausgeprägt, und
tritt auch in der besondern Bildung der Sinnesorgane, der Be-
wegungsorgane u. s. f. in die Erscheinung. Weil aber der Ge-
danke nicht ausschließlich den Begriff des Menschen ausmacht,
so treten in diesen Organen mehr die dem Menschen mit andern
Organismen gemeinsamen Functionen in die Erscheinung; und
nur die Sprache gehört ganz dem Gedanken als der obersten
Function des menschlichen Lebens an. Wie die besondere Func-
tion des Sehens in dem Auge, so stellt sich die Function des
Denkens in der Sprache als dem ihr eigenen Organe dar; und
wie das Sehen den Begriff des Auges, so macht der Gedanke
den Begriff der Sprache aus.... Zwar ist die Sprache nicht
an und für sich ein selbständiger Organism; als Erzeugniß des
menschlichen Organism hat sie nur innerhalb der Sphäre dieses
Organism ein Dasein. Aber wie jede besondere Function eines
organischen Ganzen sich in einem besondern Organe, z. B. die
Function des Sehens in dem Auge, verkörpert, und wie dieses
Organ für sich gewissermaßen einen geschlossenen Organism
ausmacht; so ist auch die Function des Sprechens in der ge-
sprochenen Sprache etwas Bleibendes — gleichsam ein besonde-
res Organ des menschlichen Gattungsorganism — geworden,
welches sich auch für sich als ein in allen seinen Theilen und
Verhältnissen organisch gegliedertes Ganze darstellt, und dem
selbständigen Organism nachgebildet ist: wie das Auge das Or-
gan für die natürliche Function des Sehens, so ist die Sprache
das Organ für die dem Menschen eben so natürliche Function
der Gedankendarstellung und Gedankenmittheilung.“ Aber beim
Herkules! vergißt denn Becker bei jeder Zeile, die er schreibt,
was er in der vorigen geschrieben hat! Haben wir hier nicht
die Zusammenstellung der Sprache mit dem Auge in demselben
Paragraphen, auf demselben Blatte zum dritten Male vor uns, im-
mer in derselben Wendung: „wie … so“? Aber das Ganze ist
ja nichts als ein unorganisches Aneinanderschieben tautologischer
Sätze. Wo wäre denn hier etwas von Entwickelung? von vor-
schreitender Gedankenbewegung? Weiß man nun mehr, als was
schon in den ersten Zeilen des Buches gesagt ist: Die Sprache
ist „diejenige Verrichtung, in welcher der Gedanke in die
Erscheinung tritt“? Analogien sind noch gegeben, und recht
schiefe.

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[75/0113] Gedanke den besondern Begriff des menschlichen Organismus ausmacht, ist er in dem ganzen Organismus ausgeprägt, und tritt auch in der besondern Bildung der Sinnesorgane, der Be- wegungsorgane u. s. f. in die Erscheinung. Weil aber der Ge- danke nicht ausschließlich den Begriff des Menschen ausmacht, so treten in diesen Organen mehr die dem Menschen mit andern Organismen gemeinsamen Functionen in die Erscheinung; und nur die Sprache gehört ganz dem Gedanken als der obersten Function des menschlichen Lebens an. Wie die besondere Func- tion des Sehens in dem Auge, so stellt sich die Function des Denkens in der Sprache als dem ihr eigenen Organe dar; und wie das Sehen den Begriff des Auges, so macht der Gedanke den Begriff der Sprache aus.... Zwar ist die Sprache nicht an und für sich ein selbständiger Organism; als Erzeugniß des menschlichen Organism hat sie nur innerhalb der Sphäre dieses Organism ein Dasein. Aber wie jede besondere Function eines organischen Ganzen sich in einem besondern Organe, z. B. die Function des Sehens in dem Auge, verkörpert, und wie dieses Organ für sich gewissermaßen einen geschlossenen Organism ausmacht; so ist auch die Function des Sprechens in der ge- sprochenen Sprache etwas Bleibendes — gleichsam ein besonde- res Organ des menschlichen Gattungsorganism — geworden, welches sich auch für sich als ein in allen seinen Theilen und Verhältnissen organisch gegliedertes Ganze darstellt, und dem selbständigen Organism nachgebildet ist: wie das Auge das Or- gan für die natürliche Function des Sehens, so ist die Sprache das Organ für die dem Menschen eben so natürliche Function der Gedankendarstellung und Gedankenmittheilung.“ Aber beim Herkules! vergißt denn Becker bei jeder Zeile, die er schreibt, was er in der vorigen geschrieben hat! Haben wir hier nicht die Zusammenstellung der Sprache mit dem Auge in demselben Paragraphen, auf demselben Blatte zum dritten Male vor uns, im- mer in derselben Wendung: „wie … so“? Aber das Ganze ist ja nichts als ein unorganisches Aneinanderschieben tautologischer Sätze. Wo wäre denn hier etwas von Entwickelung? von vor- schreitender Gedankenbewegung? Weiß man nun mehr, als was schon in den ersten Zeilen des Buches gesagt ist: Die Sprache ist „diejenige Verrichtung, in welcher der Gedanke in die Erscheinung tritt“? Analogien sind noch gegeben, und recht schiefe.

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Zitationshilfe: Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/113>, abgerufen am 28.04.2024.