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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Vorstellung von den Menschen der Eiszeit heraufbeschwört. Wir versperren uns
das Studium der räumlichen Kulturkreise und der Abhängigkeit des Menschen
von seinem Wohnorte
; jeder Stamm hat das Material seiner Umgebung ver-
werten gelernt, auf das er angewiesen war, und ist so in den Besitz von Methoden
gelangt, die eine mit demselben Material nur spärlich versorgte Nachbarschaft
nicht gefunden hätte, aber nur zum eigenen Fortschritt benutzen und üben lernt.
"Von der geographischen Umgebung", sagt Bastian, "zeigt es sich bedingt, ob
neben dem den Metallen vorhergehenden Steinalter noch ein Holzalter (wie in
brasilischen Alluvionen z. B.), ein Knochenalter (bei Viehstand auf öden Ebenen,
oder dortiger Jagd), ein Muschelalter (wie auf Korallen-Inseln manchmal) zu setzen
sein würde." Ich sage also lieber einfach, unsere Indianer kannten noch keine
Metalle und waren in ihren Arbeitsmethoden zunächst auf Muscheln, Zähne und
Holz angewiesen, schon weil sie besser geeignete Steine grossenteils gar nicht
hatten.

Und nun bin ich wieder bei meinem Ausgangspunkt angelangt. Trotz ihres
Feldbaues und trotz ihres Rodens mit der Steinaxt haben die Schingu-Indianer
sich ihr Jägertum nicht nur er-
halten können, sondern haben
es sich auch erhalten müssen,
weil ihnen Fischfang und Jagd,
abgesehen von einem Wechsel in
der Nahrung, die unentbehr-
lichsten Werkzeuge für die Her-
stellung von Waffen und Geräten
lieferte.

Zähne. Die Piranya-Ge-
bisse (serrasalmo)*) dienten zum

[Abbildung]
[Abbildung] Abb. 22.

Feuerauge-Piranya. (1/4 nat. Gr.)

Schneiden. Sie wurden mit einem beliebigen Holzhaken geöffnet und sorgfältig unter-
sucht; der 14 dreieckige Zähnchen enthaltende, 4 cm lange Unterkiefer wurde dann
mit einer Muschel ausgeschnitten. Hartes und Weiches, die Stacheln der Buritipalmen
oder das menschliche Haar, besonders aber alle Fäden und Fasern, wurden mit dem
scharfen Gebiss geschnitten. Meine Scheere nannten sie "Piranya-Zähne". Bambus
und anderes Rohr wurde damit eingeritzt, bis es glatt abgebrochen werden konnte.
Ein kaum unwichtigeres Werkzeug lieferte der Peixe cachorro oder Hundsfisch, der
zoologisch Cynodon heisst, und im Unterkiefer zwei 3--31/2 cm lange spitze, durch je
ein Loch nach oben durchtretende Zähne besitzt. Mit dem messerscharf geschliffenen
Rand dieser Zähne wurde geschnitten, doch gebrauchte man sie hauptsächlich
zum Stechen, z. B. beim Tätowiren, zum Ritzen, z. B. bei Verzierung der Schild-
kröten-Spindelscheiben, und zum Durchbohren von Rohr wie bei den Pfeilen, um
die Fäden zur Befestigung der Federn und Spitzen durchzustecken. Mit den

*) Es gab zwei Arten, eine kleinere schwarze, "Piranya preta" oder "olho de fogo" (Feuer-
auge), und eine grössere "papo amarello" (Gelbkropf), dessen "Gelb" ein prächtiges Orange war.

Vorstellung von den Menschen der Eiszeit heraufbeschwört. Wir versperren uns
das Studium der räumlichen Kulturkreise und der Abhängigkeit des Menschen
von seinem Wohnorte
; jeder Stamm hat das Material seiner Umgebung ver-
werten gelernt, auf das er angewiesen war, und ist so in den Besitz von Methoden
gelangt, die eine mit demselben Material nur spärlich versorgte Nachbarschaft
nicht gefunden hätte, aber nur zum eigenen Fortschritt benutzen und üben lernt.
»Von der geographischen Umgebung«, sagt Bastian, »zeigt es sich bedingt, ob
neben dem den Metallen vorhergehenden Steinalter noch ein Holzalter (wie in
brasilischen Alluvionen z. B.), ein Knochenalter (bei Viehstand auf öden Ebenen,
oder dortiger Jagd), ein Muschelalter (wie auf Korallen-Inseln manchmal) zu setzen
sein würde.« Ich sage also lieber einfach, unsere Indianer kannten noch keine
Metalle und waren in ihren Arbeitsmethoden zunächst auf Muscheln, Zähne und
Holz angewiesen, schon weil sie besser geeignete Steine grossenteils gar nicht
hatten.

Und nun bin ich wieder bei meinem Ausgangspunkt angelangt. Trotz ihres
Feldbaues und trotz ihres Rodens mit der Steinaxt haben die Schingú-Indianer
sich ihr Jägertum nicht nur er-
halten können, sondern haben
es sich auch erhalten müssen,
weil ihnen Fischfang und Jagd,
abgesehen von einem Wechsel in
der Nahrung, die unentbehr-
lichsten Werkzeuge für die Her-
stellung von Waffen und Geräten
lieferte.

Zähne. Die Piranya-Ge-
bisse (serrasalmo)*) dienten zum

[Abbildung]
[Abbildung] Abb. 22.

Feuerauge-Piranya. (¼ nat. Gr.)

Schneiden. Sie wurden mit einem beliebigen Holzhaken geöffnet und sorgfältig unter-
sucht; der 14 dreieckige Zähnchen enthaltende, 4 cm lange Unterkiefer wurde dann
mit einer Muschel ausgeschnitten. Hartes und Weiches, die Stacheln der Buritípalmen
oder das menschliche Haar, besonders aber alle Fäden und Fasern, wurden mit dem
scharfen Gebiss geschnitten. Meine Scheere nannten sie »Piranya-Zähne«. Bambus
und anderes Rohr wurde damit eingeritzt, bis es glatt abgebrochen werden konnte.
Ein kaum unwichtigeres Werkzeug lieferte der Peixe cachorro oder Hundsfisch, der
zoologisch Cynodon heisst, und im Unterkiefer zwei 3—3½ cm lange spitze, durch je
ein Loch nach oben durchtretende Zähne besitzt. Mit dem messerscharf geschliffenen
Rand dieser Zähne wurde geschnitten, doch gebrauchte man sie hauptsächlich
zum Stechen, z. B. beim Tätowiren, zum Ritzen, z. B. bei Verzierung der Schild-
kröten-Spindelscheiben, und zum Durchbohren von Rohr wie bei den Pfeilen, um
die Fäden zur Befestigung der Federn und Spitzen durchzustecken. Mit den

*) Es gab zwei Arten, eine kleinere schwarze, »Piranya preta« oder »olho de fogo« (Feuer-
auge), und eine grössere »papo amarello« (Gelbkropf), dessen »Gelb« ein prächtiges Orange war.
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[205/0249] Vorstellung von den Menschen der Eiszeit heraufbeschwört. Wir versperren uns das Studium der räumlichen Kulturkreise und der Abhängigkeit des Menschen von seinem Wohnorte; jeder Stamm hat das Material seiner Umgebung ver- werten gelernt, auf das er angewiesen war, und ist so in den Besitz von Methoden gelangt, die eine mit demselben Material nur spärlich versorgte Nachbarschaft nicht gefunden hätte, aber nur zum eigenen Fortschritt benutzen und üben lernt. »Von der geographischen Umgebung«, sagt Bastian, »zeigt es sich bedingt, ob neben dem den Metallen vorhergehenden Steinalter noch ein Holzalter (wie in brasilischen Alluvionen z. B.), ein Knochenalter (bei Viehstand auf öden Ebenen, oder dortiger Jagd), ein Muschelalter (wie auf Korallen-Inseln manchmal) zu setzen sein würde.« Ich sage also lieber einfach, unsere Indianer kannten noch keine Metalle und waren in ihren Arbeitsmethoden zunächst auf Muscheln, Zähne und Holz angewiesen, schon weil sie besser geeignete Steine grossenteils gar nicht hatten. Und nun bin ich wieder bei meinem Ausgangspunkt angelangt. Trotz ihres Feldbaues und trotz ihres Rodens mit der Steinaxt haben die Schingú-Indianer sich ihr Jägertum nicht nur er- halten können, sondern haben es sich auch erhalten müssen, weil ihnen Fischfang und Jagd, abgesehen von einem Wechsel in der Nahrung, die unentbehr- lichsten Werkzeuge für die Her- stellung von Waffen und Geräten lieferte. Zähne. Die Piranya-Ge- bisse (serrasalmo) *) dienten zum [Abbildung] [Abbildung Abb. 22. Feuerauge-Piranya. (¼ nat. Gr.)] Schneiden. Sie wurden mit einem beliebigen Holzhaken geöffnet und sorgfältig unter- sucht; der 14 dreieckige Zähnchen enthaltende, 4 cm lange Unterkiefer wurde dann mit einer Muschel ausgeschnitten. Hartes und Weiches, die Stacheln der Buritípalmen oder das menschliche Haar, besonders aber alle Fäden und Fasern, wurden mit dem scharfen Gebiss geschnitten. Meine Scheere nannten sie »Piranya-Zähne«. Bambus und anderes Rohr wurde damit eingeritzt, bis es glatt abgebrochen werden konnte. Ein kaum unwichtigeres Werkzeug lieferte der Peixe cachorro oder Hundsfisch, der zoologisch Cynodon heisst, und im Unterkiefer zwei 3—3½ cm lange spitze, durch je ein Loch nach oben durchtretende Zähne besitzt. Mit dem messerscharf geschliffenen Rand dieser Zähne wurde geschnitten, doch gebrauchte man sie hauptsächlich zum Stechen, z. B. beim Tätowiren, zum Ritzen, z. B. bei Verzierung der Schild- kröten-Spindelscheiben, und zum Durchbohren von Rohr wie bei den Pfeilen, um die Fäden zur Befestigung der Federn und Spitzen durchzustecken. Mit den *) Es gab zwei Arten, eine kleinere schwarze, »Piranya preta« oder »olho de fogo« (Feuer- auge), und eine grössere »papo amarello« (Gelbkropf), dessen »Gelb« ein prächtiges Orange war.

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/249>, abgerufen am 06.05.2024.