dem doch so ist, wie ist denn jener Widerspruch zu lösen, dessen Existenz und dessen Härte mit keiner formalen Definition der Entwährung verdeckt werden, dessen ernste Consequenz von keiner Versicherung, daß der Begriff des Staats an sich jeden Mißbrauch ausschließe, beseitigt werden kann?
Offenbar liegt hier eine Frage vor, deren endgültige Erledigung nicht auf dem Wege der gewöhnlichen juristischen Deduktion gefunden werden kann. Das römische Recht, das wesentlich das Privatrecht des bürgerlichen Lebens und Verkehrs ist, kennt daher weder den Namen, noch den Begriff, noch die Thatsache der Expropriation; es ist auch gänzlich vergeblich, bei ihr nach Grundsätzen für die Entwährung suchen zu wollen. Die Idee derselben entsteht erst mit dem siebzehnten Jahr- hundert; aber sie entsteht bei Männern, deren Gedanken unter der Herrschaft des römischen Rechts erzogen, deren Begriffe mit römischer Grundlage und mit römischen Namen und Formeln umgeben waren. Ihnen war daher der Gedanke der Entziehung des Eigenthums, zu dessen Vertretung und Vertheidigung sie als Juristen berufen waren, ein Räthsel, und gleichsam ein Fremdling in dem ganzen Gebiete ihrer Auffassungen. Die meisten machten es sich daher mit der Sache be- quem; sie wiesen die ganze Frage einfach von sich; von allen großen römischen Juristen, von den Glossatoren bis auf den heutigen Tag hat keiner die Entwährung jemals auch nur untersucht, geschweige denn zu einer Entscheidung gebracht. Aber diejenige Seite der Rechtswissen- schaft, welche über diese enge Grenze hinausging, mußte über das, was wir als Entwährung bezeichnen, dennoch zu einem Resultate kommen. Sie mußten versuchen, die Aufhebung des Rechts selbst wieder als ein Recht zu begreifen.
Um dazu zu gelangen, war Eine Voraussetzung nothwendig. Wir müssen sie hier erledigen, um zu dem wahren und eigentlichen Begriffe und Wesen der Entwährung gelangen zu können.
Wollte man nämlich jene Aufhebung des Einzelrechts zum Recht machen, so war es von Anfang an klar, daß man dafür einen Stand- punkt suchen müsse, der außerhalb des Privatrechts liege, und auf den die Forderungen und Grundsätze des Privatrechts vollkommen unanwendbar sind. Denn das leuchtete schon Hugo Grotius ein, daß es keineswegs genügen könne, einfach die Entwährung in dem "System des deutschen Privatrechts" unterzubringen, wie Beseler und Gerber es gethan, um sie auch zu einem wirklichen Privatrecht zu machen; noch weniger, um ihr Wesen zu erklären. Jenen Standpunkt aber fand schon die Literatur in dem Begriffe und Recht des Staats. Der Gedankenkreis, der daraus hervorging, und den alle späteren Unter- suchungen bis auf den heutigen Tag nicht überschritten haben, war
dem doch ſo iſt, wie iſt denn jener Widerſpruch zu löſen, deſſen Exiſtenz und deſſen Härte mit keiner formalen Definition der Entwährung verdeckt werden, deſſen ernſte Conſequenz von keiner Verſicherung, daß der Begriff des Staats an ſich jeden Mißbrauch ausſchließe, beſeitigt werden kann?
Offenbar liegt hier eine Frage vor, deren endgültige Erledigung nicht auf dem Wege der gewöhnlichen juriſtiſchen Deduktion gefunden werden kann. Das römiſche Recht, das weſentlich das Privatrecht des bürgerlichen Lebens und Verkehrs iſt, kennt daher weder den Namen, noch den Begriff, noch die Thatſache der Expropriation; es iſt auch gänzlich vergeblich, bei ihr nach Grundſätzen für die Entwährung ſuchen zu wollen. Die Idee derſelben entſteht erſt mit dem ſiebzehnten Jahr- hundert; aber ſie entſteht bei Männern, deren Gedanken unter der Herrſchaft des römiſchen Rechts erzogen, deren Begriffe mit römiſcher Grundlage und mit römiſchen Namen und Formeln umgeben waren. Ihnen war daher der Gedanke der Entziehung des Eigenthums, zu deſſen Vertretung und Vertheidigung ſie als Juriſten berufen waren, ein Räthſel, und gleichſam ein Fremdling in dem ganzen Gebiete ihrer Auffaſſungen. Die meiſten machten es ſich daher mit der Sache be- quem; ſie wieſen die ganze Frage einfach von ſich; von allen großen römiſchen Juriſten, von den Gloſſatoren bis auf den heutigen Tag hat keiner die Entwährung jemals auch nur unterſucht, geſchweige denn zu einer Entſcheidung gebracht. Aber diejenige Seite der Rechtswiſſen- ſchaft, welche über dieſe enge Grenze hinausging, mußte über das, was wir als Entwährung bezeichnen, dennoch zu einem Reſultate kommen. Sie mußten verſuchen, die Aufhebung des Rechts ſelbſt wieder als ein Recht zu begreifen.
Um dazu zu gelangen, war Eine Vorausſetzung nothwendig. Wir müſſen ſie hier erledigen, um zu dem wahren und eigentlichen Begriffe und Weſen der Entwährung gelangen zu können.
Wollte man nämlich jene Aufhebung des Einzelrechts zum Recht machen, ſo war es von Anfang an klar, daß man dafür einen Stand- punkt ſuchen müſſe, der außerhalb des Privatrechts liege, und auf den die Forderungen und Grundſätze des Privatrechts vollkommen unanwendbar ſind. Denn das leuchtete ſchon Hugo Grotius ein, daß es keineswegs genügen könne, einfach die Entwährung in dem „Syſtem des deutſchen Privatrechts“ unterzubringen, wie Beſeler und Gerber es gethan, um ſie auch zu einem wirklichen Privatrecht zu machen; noch weniger, um ihr Weſen zu erklären. Jenen Standpunkt aber fand ſchon die Literatur in dem Begriffe und Recht des Staats. Der Gedankenkreis, der daraus hervorging, und den alle ſpäteren Unter- ſuchungen bis auf den heutigen Tag nicht überſchritten haben, war
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dem doch ſo iſt, wie iſt denn jener Widerſpruch zu löſen, deſſen Exiſtenz
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des Staats an ſich jeden Mißbrauch ausſchließe, beſeitigt werden kann?
Offenbar liegt hier eine Frage vor, deren endgültige Erledigung
nicht auf dem Wege der gewöhnlichen juriſtiſchen Deduktion gefunden
werden kann. Das römiſche Recht, das weſentlich das Privatrecht des
bürgerlichen Lebens und Verkehrs iſt, kennt daher weder den Namen,
noch den Begriff, noch die Thatſache der Expropriation; es iſt auch
gänzlich vergeblich, bei ihr nach Grundſätzen für die Entwährung ſuchen
zu wollen. Die Idee derſelben entſteht erſt mit dem ſiebzehnten Jahr-
hundert; aber ſie entſteht bei Männern, deren Gedanken unter der
Herrſchaft des römiſchen Rechts erzogen, deren Begriffe mit römiſcher
Grundlage und mit römiſchen Namen und Formeln umgeben waren.
Ihnen war daher der Gedanke der Entziehung des Eigenthums, zu
deſſen Vertretung und Vertheidigung ſie als Juriſten berufen waren,
ein Räthſel, und gleichſam ein Fremdling in dem ganzen Gebiete ihrer
Auffaſſungen. Die meiſten machten es ſich daher mit der Sache be-
quem; ſie wieſen die ganze Frage einfach von ſich; von allen großen
römiſchen Juriſten, von den Gloſſatoren bis auf den heutigen Tag hat
keiner die Entwährung jemals auch nur unterſucht, geſchweige denn
zu einer Entſcheidung gebracht. Aber diejenige Seite der Rechtswiſſen-
ſchaft, welche über dieſe enge Grenze hinausging, mußte über das,
was wir als Entwährung bezeichnen, dennoch zu einem Reſultate
kommen. Sie mußten verſuchen, die Aufhebung des Rechts ſelbſt wieder
als ein Recht zu begreifen.
Um dazu zu gelangen, war Eine Vorausſetzung nothwendig. Wir
müſſen ſie hier erledigen, um zu dem wahren und eigentlichen Begriffe
und Weſen der Entwährung gelangen zu können.
Wollte man nämlich jene Aufhebung des Einzelrechts zum Recht
machen, ſo war es von Anfang an klar, daß man dafür einen Stand-
punkt ſuchen müſſe, der außerhalb des Privatrechts liege, und
auf den die Forderungen und Grundſätze des Privatrechts vollkommen
unanwendbar ſind. Denn das leuchtete ſchon Hugo Grotius ein, daß
es keineswegs genügen könne, einfach die Entwährung in dem „Syſtem
des deutſchen Privatrechts“ unterzubringen, wie Beſeler und Gerber
es gethan, um ſie auch zu einem wirklichen Privatrecht zu machen;
noch weniger, um ihr Weſen zu erklären. Jenen Standpunkt aber
fand ſchon die Literatur in dem Begriffe und Recht des Staats. Der
Gedankenkreis, der daraus hervorging, und den alle ſpäteren Unter-
ſuchungen bis auf den heutigen Tag nicht überſchritten haben, war
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/87>, abgerufen am 27.07.2024.
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