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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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Verwaltung ein wohlerworbenes Privatrecht, dessen Aufhebung als
eine unabweisbar gewordene Bedingung der allgemeinen Entwicklung
anerkannt ist, gegen Rückerstattung seines Werthes, oder gegen Ent-
schädigung und nach gesetzlichen Formen aufhebt.

Die Entwährung ist daher zunächst nichts anderes, als eine specielle
Anwendung des Begriffes der Verwaltung und ihres Princips auf das
erworbene Recht des Einzelnen. Diese Anwendung hat, wie jeder Akt der
Verwaltung, die allgemein anerkannte Aufgabe, die Bedingungen der
Gesammtentwicklung herzustellen, die sich die Einzelnen nicht mit eigner
Kraft herstellen können. Sie darf daher grundsätzlich auch nur da be-
ginnen, wo der Versuch, jene Privatrechte durch freien Vertrag beseitigen
zu wollen, sich als ergebnißlos bewiesen haben.

Ist dem nun so, muß man wohl fragen, ob dann wirklich die
Entwährung bei diesen einfachen Grundlagen eine größere Bedeutung
hat, und daher die Arbeit und Mühe einer allgemeineren Auffassung
bedürfen wird.

In der That aber tritt uns sogleich bei der Entwährung ein tiefer
Widerspruch entgegen, dessen Erwägung uns auf weitere Fragen führt.
Die Entwährungslehre läßt nämlich das Eingreifen, die Aufgabe und
das Recht der innern Verwaltung auf dem Punkte eintreten, wo auf
den ersten Blick die ganze innere Verwaltung aufhören, und die un-
bestrittene Funktion des zweiten Theiles der Verwaltung, die Rechts-
pflege, allein eingreifen sollte. Während in Bevölkerung, Polizei, Ge-
sundheit und Bildung die Verwaltung das individuelle Leben in seinen
Grundlagen schützt und entwickelt, tritt sie in der Entwährung dem-
jenigen direkt entgegen, was selbst als die erste Grundlage aller
persönlichen Selbständigkeit und Entwicklung vom Staate selbst aner-
kannt wird, dem individuellen, wohlerworbenen Rechte des Einzelnen,
und hebt es da auf, wo seine Unverletzlichkeit als die allererste Bedingung
jeder Freiheit und jedes Fortschrittes anerkannt wird, im persönlichen
Eigenthum. Es ist kein Zweifel, daß der Staat diese Berechtigung
haben muß; es ist aber auch kein Zweifel, daß diese Berechtigung im
direkten Gegensatz zum Wesen der selbständigen Persönlichkeit steht.
Und ist nun der Staat selbst nur die höchste Form der Persönlichkeit,
tritt er da nicht mit sich selbst in Widerspruch, indem er ein Recht auf
Entwährung überhaupt anerkennt und fordert? Kann dann überhaupt
noch der Begriff und das Wesen der selbstbestimmten Persönlichkeit der
Staatswissenschaft zum Grunde gelegt werden, wenn die erste Forde-
rung der Volkswirthschaftspflege die ist, durch den Willen des Staats
dasjenige aufheben zu dürfen, was die erste Forderung für den freien
Staatsbürger ist: die Heiligkeit des bürgerlichen Rechts? Und wenn

Verwaltung ein wohlerworbenes Privatrecht, deſſen Aufhebung als
eine unabweisbar gewordene Bedingung der allgemeinen Entwicklung
anerkannt iſt, gegen Rückerſtattung ſeines Werthes, oder gegen Ent-
ſchädigung und nach geſetzlichen Formen aufhebt.

Die Entwährung iſt daher zunächſt nichts anderes, als eine ſpecielle
Anwendung des Begriffes der Verwaltung und ihres Princips auf das
erworbene Recht des Einzelnen. Dieſe Anwendung hat, wie jeder Akt der
Verwaltung, die allgemein anerkannte Aufgabe, die Bedingungen der
Geſammtentwicklung herzuſtellen, die ſich die Einzelnen nicht mit eigner
Kraft herſtellen können. Sie darf daher grundſätzlich auch nur da be-
ginnen, wo der Verſuch, jene Privatrechte durch freien Vertrag beſeitigen
zu wollen, ſich als ergebnißlos bewieſen haben.

Iſt dem nun ſo, muß man wohl fragen, ob dann wirklich die
Entwährung bei dieſen einfachen Grundlagen eine größere Bedeutung
hat, und daher die Arbeit und Mühe einer allgemeineren Auffaſſung
bedürfen wird.

In der That aber tritt uns ſogleich bei der Entwährung ein tiefer
Widerſpruch entgegen, deſſen Erwägung uns auf weitere Fragen führt.
Die Entwährungslehre läßt nämlich das Eingreifen, die Aufgabe und
das Recht der innern Verwaltung auf dem Punkte eintreten, wo auf
den erſten Blick die ganze innere Verwaltung aufhören, und die un-
beſtrittene Funktion des zweiten Theiles der Verwaltung, die Rechts-
pflege, allein eingreifen ſollte. Während in Bevölkerung, Polizei, Ge-
ſundheit und Bildung die Verwaltung das individuelle Leben in ſeinen
Grundlagen ſchützt und entwickelt, tritt ſie in der Entwährung dem-
jenigen direkt entgegen, was ſelbſt als die erſte Grundlage aller
perſönlichen Selbſtändigkeit und Entwicklung vom Staate ſelbſt aner-
kannt wird, dem individuellen, wohlerworbenen Rechte des Einzelnen,
und hebt es da auf, wo ſeine Unverletzlichkeit als die allererſte Bedingung
jeder Freiheit und jedes Fortſchrittes anerkannt wird, im perſönlichen
Eigenthum. Es iſt kein Zweifel, daß der Staat dieſe Berechtigung
haben muß; es iſt aber auch kein Zweifel, daß dieſe Berechtigung im
direkten Gegenſatz zum Weſen der ſelbſtändigen Perſönlichkeit ſteht.
Und iſt nun der Staat ſelbſt nur die höchſte Form der Perſönlichkeit,
tritt er da nicht mit ſich ſelbſt in Widerſpruch, indem er ein Recht auf
Entwährung überhaupt anerkennt und fordert? Kann dann überhaupt
noch der Begriff und das Weſen der ſelbſtbeſtimmten Perſönlichkeit der
Staatswiſſenſchaft zum Grunde gelegt werden, wenn die erſte Forde-
rung der Volkswirthſchaftspflege die iſt, durch den Willen des Staats
dasjenige aufheben zu dürfen, was die erſte Forderung für den freien
Staatsbürger iſt: die Heiligkeit des bürgerlichen Rechts? Und wenn

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[68/0086] Verwaltung ein wohlerworbenes Privatrecht, deſſen Aufhebung als eine unabweisbar gewordene Bedingung der allgemeinen Entwicklung anerkannt iſt, gegen Rückerſtattung ſeines Werthes, oder gegen Ent- ſchädigung und nach geſetzlichen Formen aufhebt. Die Entwährung iſt daher zunächſt nichts anderes, als eine ſpecielle Anwendung des Begriffes der Verwaltung und ihres Princips auf das erworbene Recht des Einzelnen. Dieſe Anwendung hat, wie jeder Akt der Verwaltung, die allgemein anerkannte Aufgabe, die Bedingungen der Geſammtentwicklung herzuſtellen, die ſich die Einzelnen nicht mit eigner Kraft herſtellen können. Sie darf daher grundſätzlich auch nur da be- ginnen, wo der Verſuch, jene Privatrechte durch freien Vertrag beſeitigen zu wollen, ſich als ergebnißlos bewieſen haben. Iſt dem nun ſo, muß man wohl fragen, ob dann wirklich die Entwährung bei dieſen einfachen Grundlagen eine größere Bedeutung hat, und daher die Arbeit und Mühe einer allgemeineren Auffaſſung bedürfen wird. In der That aber tritt uns ſogleich bei der Entwährung ein tiefer Widerſpruch entgegen, deſſen Erwägung uns auf weitere Fragen führt. Die Entwährungslehre läßt nämlich das Eingreifen, die Aufgabe und das Recht der innern Verwaltung auf dem Punkte eintreten, wo auf den erſten Blick die ganze innere Verwaltung aufhören, und die un- beſtrittene Funktion des zweiten Theiles der Verwaltung, die Rechts- pflege, allein eingreifen ſollte. Während in Bevölkerung, Polizei, Ge- ſundheit und Bildung die Verwaltung das individuelle Leben in ſeinen Grundlagen ſchützt und entwickelt, tritt ſie in der Entwährung dem- jenigen direkt entgegen, was ſelbſt als die erſte Grundlage aller perſönlichen Selbſtändigkeit und Entwicklung vom Staate ſelbſt aner- kannt wird, dem individuellen, wohlerworbenen Rechte des Einzelnen, und hebt es da auf, wo ſeine Unverletzlichkeit als die allererſte Bedingung jeder Freiheit und jedes Fortſchrittes anerkannt wird, im perſönlichen Eigenthum. Es iſt kein Zweifel, daß der Staat dieſe Berechtigung haben muß; es iſt aber auch kein Zweifel, daß dieſe Berechtigung im direkten Gegenſatz zum Weſen der ſelbſtändigen Perſönlichkeit ſteht. Und iſt nun der Staat ſelbſt nur die höchſte Form der Perſönlichkeit, tritt er da nicht mit ſich ſelbſt in Widerſpruch, indem er ein Recht auf Entwährung überhaupt anerkennt und fordert? Kann dann überhaupt noch der Begriff und das Weſen der ſelbſtbeſtimmten Perſönlichkeit der Staatswiſſenſchaft zum Grunde gelegt werden, wenn die erſte Forde- rung der Volkswirthſchaftspflege die iſt, durch den Willen des Staats dasjenige aufheben zu dürfen, was die erſte Forderung für den freien Staatsbürger iſt: die Heiligkeit des bürgerlichen Rechts? Und wenn

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/86>, abgerufen am 27.04.2024.