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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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Es liegt nun im Wesen der Enteignung, daß dieselbe da zuerst zu
einem gesetzlichen Recht wird, wo das principiell freie Staatsbürger-
thum die Verwaltung des Staats sich gegenüber sieht; in dem Gegen-
satze beider entwickelt sich erst das verfassungsmäßige Enteignungsrecht.
Die französische Revolution war es nun, welche einerseits die staats-
bürgerliche Freiheit, andererseits aber auch die Gewalt und Berechtigung
der staatsbürgerlichen Verwaltung in Europa zuerst zum Bewußtsein
brachte. Sie nahm daher den allgemeinen Grundsatz der Enteignung,
wie sich derselbe aus dem 18. Jahrhundert ausgebildet hatte, unbedenk-
lich auf; allein sie stellt ihn nicht voran, sondern sie macht sein Gegen-
theil, das individuelle Eigenthum, aus einem bisher unmittelbaren und
nie bestrittenen Rechtsaxiom zu einem Grundsatze des verfassungs-
mäßigen Staatsbürgerrechts
. Sie sagt damit im Grunde nichts
Anderes, als was niemand bezweifelt; aber indem sie dieses Eigen-
thumsrecht zu einem Recht der Verfassung erhebt, macht sie es noth-
wendig, daß die wirkliche Enteignung nicht mehr kraft einer Verord-
nung, sondern nur noch kraft eines Gesetzes erfolgen könne. Darin
liegt die Bedeutung der Geschichte des französischen droit d'expropria-
tion
. Und diesem Vorgange sind die continentalen Staaten fast aus-
nahmslos gefolgt. Schon die Declaration des droits de l'homme vom
26. August 1789 spricht, im wesentlichen Unterschied von dem Stand-
punkt des 18. Jahrhunderts, den verfassungsmäßigen Grundsatz der
sogenannten "Heiligkeit des Eigenthums" aus. "La propriete etant
un droit inviolable et sacre, nul ne peut en etre prive, si ce n'est
lorsque la necessite publique, legalement constatee, l'exige evidemment,
et sous la condition d'une juste et prealable indemnite"
(art. 17; fast
wörtlich wiederholt in der Declaration von 1793, Art. 19). Der Unter-
schied dieses Princips von dem des 18. Jahrhunderts besteht in der
That nur in den Worten "legalement constatee." Die Basis der Ge-
schichte des Enteignungsrechts ist von da an die Gesetzgebung über die
Art und Weise, wie die "necessite publique" gesetzlich festgestellt
werden soll; die Bildung dieses Rechts beginnt mit dem ersten Expro-
priationsgesetz von 1810 und schließt mit dem definitiven Gesetze von
1841. Die deutschen Staaten haben genau denselben Weg eingehalten;
fast alle Verfassungen haben mit beinahe wörtlicher Wiederholung jener
Artikel der Declaration oder des Art. 545 des Code civil jene Heilig-
keit des Eigenthums feierlich anerkannt, zugleich aber meistens nach
demselben Vorgange den Grundsatz gleichfalls verfassungsmäßig ausge-
sprochen, daß bei Erfordernissen des öffentlichen Wohles die Enteignung
eintreten könne. Diese verfassungsmäßigen Bestimmungen sind nun
mehr oder weniger ausführlich; am ausführlichsten bleibt in dieser ganzen

Es liegt nun im Weſen der Enteignung, daß dieſelbe da zuerſt zu
einem geſetzlichen Recht wird, wo das principiell freie Staatsbürger-
thum die Verwaltung des Staats ſich gegenüber ſieht; in dem Gegen-
ſatze beider entwickelt ſich erſt das verfaſſungsmäßige Enteignungsrecht.
Die franzöſiſche Revolution war es nun, welche einerſeits die ſtaats-
bürgerliche Freiheit, andererſeits aber auch die Gewalt und Berechtigung
der ſtaatsbürgerlichen Verwaltung in Europa zuerſt zum Bewußtſein
brachte. Sie nahm daher den allgemeinen Grundſatz der Enteignung,
wie ſich derſelbe aus dem 18. Jahrhundert ausgebildet hatte, unbedenk-
lich auf; allein ſie ſtellt ihn nicht voran, ſondern ſie macht ſein Gegen-
theil, das individuelle Eigenthum, aus einem bisher unmittelbaren und
nie beſtrittenen Rechtsaxiom zu einem Grundſatze des verfaſſungs-
mäßigen Staatsbürgerrechts
. Sie ſagt damit im Grunde nichts
Anderes, als was niemand bezweifelt; aber indem ſie dieſes Eigen-
thumsrecht zu einem Recht der Verfaſſung erhebt, macht ſie es noth-
wendig, daß die wirkliche Enteignung nicht mehr kraft einer Verord-
nung, ſondern nur noch kraft eines Geſetzes erfolgen könne. Darin
liegt die Bedeutung der Geſchichte des franzöſiſchen droit d’expropria-
tion
. Und dieſem Vorgange ſind die continentalen Staaten faſt aus-
nahmslos gefolgt. Schon die Déclaration des droits de l’homme vom
26. Auguſt 1789 ſpricht, im weſentlichen Unterſchied von dem Stand-
punkt des 18. Jahrhunderts, den verfaſſungsmäßigen Grundſatz der
ſogenannten „Heiligkeit des Eigenthums“ aus. „La propriété étant
un droit inviolable et sacré, nul ne peut en être privé, si ce n’est
lorsque la nécessité publique, légalement constatée, l’éxige évidemment,
et sous la condition d’une juste et préalable indemnité“
(art. 17; faſt
wörtlich wiederholt in der Declaration von 1793, Art. 19). Der Unter-
ſchied dieſes Princips von dem des 18. Jahrhunderts beſteht in der
That nur in den Worten „légalement constatée.“ Die Baſis der Ge-
ſchichte des Enteignungsrechts iſt von da an die Geſetzgebung über die
Art und Weiſe, wie die „nécessité publique“ geſetzlich feſtgeſtellt
werden ſoll; die Bildung dieſes Rechts beginnt mit dem erſten Expro-
priationsgeſetz von 1810 und ſchließt mit dem definitiven Geſetze von
1841. Die deutſchen Staaten haben genau denſelben Weg eingehalten;
faſt alle Verfaſſungen haben mit beinahe wörtlicher Wiederholung jener
Artikel der Declaration oder des Art. 545 des Code civil jene Heilig-
keit des Eigenthums feierlich anerkannt, zugleich aber meiſtens nach
demſelben Vorgange den Grundſatz gleichfalls verfaſſungsmäßig ausge-
ſprochen, daß bei Erforderniſſen des öffentlichen Wohles die Enteignung
eintreten könne. Dieſe verfaſſungsmäßigen Beſtimmungen ſind nun
mehr oder weniger ausführlich; am ausführlichſten bleibt in dieſer ganzen

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[307/0325] Es liegt nun im Weſen der Enteignung, daß dieſelbe da zuerſt zu einem geſetzlichen Recht wird, wo das principiell freie Staatsbürger- thum die Verwaltung des Staats ſich gegenüber ſieht; in dem Gegen- ſatze beider entwickelt ſich erſt das verfaſſungsmäßige Enteignungsrecht. Die franzöſiſche Revolution war es nun, welche einerſeits die ſtaats- bürgerliche Freiheit, andererſeits aber auch die Gewalt und Berechtigung der ſtaatsbürgerlichen Verwaltung in Europa zuerſt zum Bewußtſein brachte. Sie nahm daher den allgemeinen Grundſatz der Enteignung, wie ſich derſelbe aus dem 18. Jahrhundert ausgebildet hatte, unbedenk- lich auf; allein ſie ſtellt ihn nicht voran, ſondern ſie macht ſein Gegen- theil, das individuelle Eigenthum, aus einem bisher unmittelbaren und nie beſtrittenen Rechtsaxiom zu einem Grundſatze des verfaſſungs- mäßigen Staatsbürgerrechts. Sie ſagt damit im Grunde nichts Anderes, als was niemand bezweifelt; aber indem ſie dieſes Eigen- thumsrecht zu einem Recht der Verfaſſung erhebt, macht ſie es noth- wendig, daß die wirkliche Enteignung nicht mehr kraft einer Verord- nung, ſondern nur noch kraft eines Geſetzes erfolgen könne. Darin liegt die Bedeutung der Geſchichte des franzöſiſchen droit d’expropria- tion. Und dieſem Vorgange ſind die continentalen Staaten faſt aus- nahmslos gefolgt. Schon die Déclaration des droits de l’homme vom 26. Auguſt 1789 ſpricht, im weſentlichen Unterſchied von dem Stand- punkt des 18. Jahrhunderts, den verfaſſungsmäßigen Grundſatz der ſogenannten „Heiligkeit des Eigenthums“ aus. „La propriété étant un droit inviolable et sacré, nul ne peut en être privé, si ce n’est lorsque la nécessité publique, légalement constatée, l’éxige évidemment, et sous la condition d’une juste et préalable indemnité“ (art. 17; faſt wörtlich wiederholt in der Declaration von 1793, Art. 19). Der Unter- ſchied dieſes Princips von dem des 18. Jahrhunderts beſteht in der That nur in den Worten „légalement constatée.“ Die Baſis der Ge- ſchichte des Enteignungsrechts iſt von da an die Geſetzgebung über die Art und Weiſe, wie die „nécessité publique“ geſetzlich feſtgeſtellt werden ſoll; die Bildung dieſes Rechts beginnt mit dem erſten Expro- priationsgeſetz von 1810 und ſchließt mit dem definitiven Geſetze von 1841. Die deutſchen Staaten haben genau denſelben Weg eingehalten; faſt alle Verfaſſungen haben mit beinahe wörtlicher Wiederholung jener Artikel der Declaration oder des Art. 545 des Code civil jene Heilig- keit des Eigenthums feierlich anerkannt, zugleich aber meiſtens nach demſelben Vorgange den Grundſatz gleichfalls verfaſſungsmäßig ausge- ſprochen, daß bei Erforderniſſen des öffentlichen Wohles die Enteignung eintreten könne. Dieſe verfaſſungsmäßigen Beſtimmungen ſind nun mehr oder weniger ausführlich; am ausführlichſten bleibt in dieſer ganzen

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/325>, abgerufen am 12.05.2024.