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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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ist nicht möglich ohne einen wesentlich andern Begriff vom Staate;
der Staat und seine Regierung sollen nicht mehr außerhalb und als
anders geartete Gewalten über dem Volke stehen, sondern ein lebendiger
Theil des organischen Volkslebens sein; und es ist klar, daß dieser
tiefe Grundzug in der staatlichen Auffassung unseres Jahrhunderts den
Resten der Staatsidee des vorigen tödtlich feind sein mußte. Das
zweite aber ist nicht möglich, auch als Forderung nicht, ohne eine
eben so gründlich geänderte Auffassung der Gesellschaftsordnung
und mithin ihres Rechts
. In der Geschlechterordnung sowie in
der mit ihr verbundenen ständischen Ordnung steht eigentlich nirgends
ein Herr einem Diener und Knecht gegenüber, sondern vielmehr ein
herrschender Körper -- der adelige Stand, die ständische Körper-
schaft -- der beherrschten geschlechter- und standeslosen Masse; jeder
Herr ist nur Herr als Mitglied dieses Standes, dieser Körperschaft; er
ist nicht in seinem Recht, sondern er ist in dem Recht seines Ge-
schlechts, seines ständischen Berufs. Eine Aenderung dieser Herrschaft
über die beherrschte Klasse ist daher nicht etwa eine einfache Entwährung
von Rechten, sondern geradezu eine Aufhebung des ganzen gesellschaft-
lichen Grundgedankens; sie ist nur möglich durch eine andere Idee der
Gesellschaft selbst. Und diese ist es, welche sich in der ersten Hälfte
unseres Jahrhunderts vollzieht. Die Herrschaft des Grundgedankens
der Geschlechterordnung ist es, welche die französische Revolution auch
für Deutschland gebrochen hat. Die Idee der Gleichheit bedeutet für
das wirkliche Leben Deutschlands niemals die französische Egalite,
sondern vielmehr die Aufhebung der Berechtigung der Geschlechter als
Ganzen auf eine herrschende Stellung, die Gleichstellung der einzelnen
Glieder der Geschlechterherren mit jedem Gliede der beherrschten Klasse.
Das sagt man sich nicht in dieser Weise, aber man fühlt und weiß es
darum nicht weniger; die größten historischen Wahrheiten fordern oft
am wenigsten die wissenschaftliche Formulirung, um zu gelten. Der
Punkt aber, wo man das Dasein jener Auffassung am greifbarsten
erkennt, ist eben das Verhältniß zwischen Grundherrn und Hörigen.
Die Grundlast aller Art hat durch jene Idee ihren Charakter geändert.
Sie erscheint nicht mehr als eine Unterwerfung einer niederern Klasse
unter eine höhere, sondern als eine Unterwerfung eines Einzelnen unter
einen andern Einzelnen. Der Grundherr ist ein Individuum ge-
worden. Und das ist der Widerspruch. Kann ein Einzelner einem
Einzelnen unterworfen sein? Und kann er es nicht, so muß die
Form, in welcher jene Unterwerfung noch fortdauert, aufgehoben werden.
Sie muß es für das persönliche Recht, und so entsteht die Aufhebung
der Leibeigenschaft; sie muß es aber auch für das wirthschaftliche Leben,

iſt nicht möglich ohne einen weſentlich andern Begriff vom Staate;
der Staat und ſeine Regierung ſollen nicht mehr außerhalb und als
anders geartete Gewalten über dem Volke ſtehen, ſondern ein lebendiger
Theil des organiſchen Volkslebens ſein; und es iſt klar, daß dieſer
tiefe Grundzug in der ſtaatlichen Auffaſſung unſeres Jahrhunderts den
Reſten der Staatsidee des vorigen tödtlich feind ſein mußte. Das
zweite aber iſt nicht möglich, auch als Forderung nicht, ohne eine
eben ſo gründlich geänderte Auffaſſung der Geſellſchaftsordnung
und mithin ihres Rechts
. In der Geſchlechterordnung ſowie in
der mit ihr verbundenen ſtändiſchen Ordnung ſteht eigentlich nirgends
ein Herr einem Diener und Knecht gegenüber, ſondern vielmehr ein
herrſchender Körper — der adelige Stand, die ſtändiſche Körper-
ſchaft — der beherrſchten geſchlechter- und ſtandesloſen Maſſe; jeder
Herr iſt nur Herr als Mitglied dieſes Standes, dieſer Körperſchaft; er
iſt nicht in ſeinem Recht, ſondern er iſt in dem Recht ſeines Ge-
ſchlechts, ſeines ſtändiſchen Berufs. Eine Aenderung dieſer Herrſchaft
über die beherrſchte Klaſſe iſt daher nicht etwa eine einfache Entwährung
von Rechten, ſondern geradezu eine Aufhebung des ganzen geſellſchaft-
lichen Grundgedankens; ſie iſt nur möglich durch eine andere Idee der
Geſellſchaft ſelbſt. Und dieſe iſt es, welche ſich in der erſten Hälfte
unſeres Jahrhunderts vollzieht. Die Herrſchaft des Grundgedankens
der Geſchlechterordnung iſt es, welche die franzöſiſche Revolution auch
für Deutſchland gebrochen hat. Die Idee der Gleichheit bedeutet für
das wirkliche Leben Deutſchlands niemals die franzöſiſche Egalité,
ſondern vielmehr die Aufhebung der Berechtigung der Geſchlechter als
Ganzen auf eine herrſchende Stellung, die Gleichſtellung der einzelnen
Glieder der Geſchlechterherren mit jedem Gliede der beherrſchten Klaſſe.
Das ſagt man ſich nicht in dieſer Weiſe, aber man fühlt und weiß es
darum nicht weniger; die größten hiſtoriſchen Wahrheiten fordern oft
am wenigſten die wiſſenſchaftliche Formulirung, um zu gelten. Der
Punkt aber, wo man das Daſein jener Auffaſſung am greifbarſten
erkennt, iſt eben das Verhältniß zwiſchen Grundherrn und Hörigen.
Die Grundlaſt aller Art hat durch jene Idee ihren Charakter geändert.
Sie erſcheint nicht mehr als eine Unterwerfung einer niederern Klaſſe
unter eine höhere, ſondern als eine Unterwerfung eines Einzelnen unter
einen andern Einzelnen. Der Grundherr iſt ein Individuum ge-
worden. Und das iſt der Widerſpruch. Kann ein Einzelner einem
Einzelnen unterworfen ſein? Und kann er es nicht, ſo muß die
Form, in welcher jene Unterwerfung noch fortdauert, aufgehoben werden.
Sie muß es für das perſönliche Recht, und ſo entſteht die Aufhebung
der Leibeigenſchaft; ſie muß es aber auch für das wirthſchaftliche Leben,

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[215/0233] iſt nicht möglich ohne einen weſentlich andern Begriff vom Staate; der Staat und ſeine Regierung ſollen nicht mehr außerhalb und als anders geartete Gewalten über dem Volke ſtehen, ſondern ein lebendiger Theil des organiſchen Volkslebens ſein; und es iſt klar, daß dieſer tiefe Grundzug in der ſtaatlichen Auffaſſung unſeres Jahrhunderts den Reſten der Staatsidee des vorigen tödtlich feind ſein mußte. Das zweite aber iſt nicht möglich, auch als Forderung nicht, ohne eine eben ſo gründlich geänderte Auffaſſung der Geſellſchaftsordnung und mithin ihres Rechts. In der Geſchlechterordnung ſowie in der mit ihr verbundenen ſtändiſchen Ordnung ſteht eigentlich nirgends ein Herr einem Diener und Knecht gegenüber, ſondern vielmehr ein herrſchender Körper — der adelige Stand, die ſtändiſche Körper- ſchaft — der beherrſchten geſchlechter- und ſtandesloſen Maſſe; jeder Herr iſt nur Herr als Mitglied dieſes Standes, dieſer Körperſchaft; er iſt nicht in ſeinem Recht, ſondern er iſt in dem Recht ſeines Ge- ſchlechts, ſeines ſtändiſchen Berufs. Eine Aenderung dieſer Herrſchaft über die beherrſchte Klaſſe iſt daher nicht etwa eine einfache Entwährung von Rechten, ſondern geradezu eine Aufhebung des ganzen geſellſchaft- lichen Grundgedankens; ſie iſt nur möglich durch eine andere Idee der Geſellſchaft ſelbſt. Und dieſe iſt es, welche ſich in der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts vollzieht. Die Herrſchaft des Grundgedankens der Geſchlechterordnung iſt es, welche die franzöſiſche Revolution auch für Deutſchland gebrochen hat. Die Idee der Gleichheit bedeutet für das wirkliche Leben Deutſchlands niemals die franzöſiſche Egalité, ſondern vielmehr die Aufhebung der Berechtigung der Geſchlechter als Ganzen auf eine herrſchende Stellung, die Gleichſtellung der einzelnen Glieder der Geſchlechterherren mit jedem Gliede der beherrſchten Klaſſe. Das ſagt man ſich nicht in dieſer Weiſe, aber man fühlt und weiß es darum nicht weniger; die größten hiſtoriſchen Wahrheiten fordern oft am wenigſten die wiſſenſchaftliche Formulirung, um zu gelten. Der Punkt aber, wo man das Daſein jener Auffaſſung am greifbarſten erkennt, iſt eben das Verhältniß zwiſchen Grundherrn und Hörigen. Die Grundlaſt aller Art hat durch jene Idee ihren Charakter geändert. Sie erſcheint nicht mehr als eine Unterwerfung einer niederern Klaſſe unter eine höhere, ſondern als eine Unterwerfung eines Einzelnen unter einen andern Einzelnen. Der Grundherr iſt ein Individuum ge- worden. Und das iſt der Widerſpruch. Kann ein Einzelner einem Einzelnen unterworfen ſein? Und kann er es nicht, ſo muß die Form, in welcher jene Unterwerfung noch fortdauert, aufgehoben werden. Sie muß es für das perſönliche Recht, und ſo entſteht die Aufhebung der Leibeigenſchaft; ſie muß es aber auch für das wirthſchaftliche Leben,

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/233>, abgerufen am 25.11.2024.