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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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die staatlich herrschende; sie herrscht nicht bloß in der Verfassung, son-
dern auch in der Verwaltung, und sie herrscht in derselben nicht bloß
vermöge des Besitzes, sondern auch vermöge der Idee des Staats
und seines Rechts, die sie innerhalb der Grundherrlichkeit vertritt. Jetzt
nehmen auch die von ihr von der beherrschten Klasse geforderten Lei-
stungen einen anderen Charakter an; sie erscheinen nicht mehr als bloß
wirthschaftliche, sondern als öffentlich rechtliche Leistungen; der Grund-
herr bekommt das Recht, die Angehörigen zu zwingen zu neuen
Leistungen, die er für wirkliche oder angebliche öffentliche Aufgaben
und Funktionen fordert; daß dieselben dann mit den alten Namen be-
legt werden, ändert natürlich dieß Verhältniß nicht; und so entstehen
"Zehnten" und "Frohnden," welche für Verwaltungszwecke auferlegt
und gefordert werden, wie namentlich Schulzehnten, Wegefrohnden u. s. w.,
die mit dem Grundbesitz des Herrn an sich nichts zu thun haben, son-
dern in der That Naturalsteuern sind, welche aber der Grundherr als
Patrimonialrichter einfordert. Hier ist der Rechtstitel nicht mehr Lehn
oder Hörigkeit, sondern hier ist er schon die staatliche Gewalt; und
damit nimmt die herrschende Klasse jetzt auch die staatliche Idee in
ihrer Stellung auf, indem nunmehr der Begriff und Name der ("hohen")
"Obrigkeit" mit der Stellung der Grundherren identificirt wird. Diese
Stellung aber empfängt nun dadurch ihren Abschluß, daß der Grund-
herr als persönlicher Inhaber der Gerichtsbarkeit stets der gesetzliche
Richter in eigener Sache ist
, und daher der beherrschten Klasse
keine Möglichkeit mehr offen bleibt, sich gegen die Auflagen der Guts-
herren oder die Willkür der grundherrlichen Polizei zu schützen, da
das Gericht dem gehört, den der Bedrückte verklagen soll. Das ist der
Höhepunkt der gesellschaftlichen Unfreiheit, wie sie durch das Zusammen-
wirken der Sonderinteressen der Geschlechter- und Ständeordnung auf
dem Lande sich herausbildet. -- Aus jenen drei großen Elementen be-
steht nun der Zustand der Gutsherrlichkeiten und der Bauern bis auf
die neueste Zeit. Natürlich hat sich derselbe zu dieser vollständigen
Herrschaft der ersteren und Unfreiheit der letzteren wieder allenthalben
gleichmäßig, noch auch ohne die heftigsten Kämpfe entwickelt. Ueber-
blickt man die Karte des lehnrechtlichen Europas, so sieht man die ver-
schiedensten Spielarten der Abhängigkeit, unter den verschiedensten Na-
men, die jedoch unter oft ganz örtlicher Geltung allgemeine europäische
Verhältnisse bedeuten. Eins aber ist allen diesen Variationen einer
derselben Thatsache gemein -- das ist das Streben der Grundherren,
alle drei Klassen der alten Geschlechterordnung in die möglichst gleiche
Unfreiheit
hinabzudrücken, und alle mit möglichst gleicher Härte aus-
zubeuten. Und bei völligem Mangel an staatlicher Gewalt und rohester

die ſtaatlich herrſchende; ſie herrſcht nicht bloß in der Verfaſſung, ſon-
dern auch in der Verwaltung, und ſie herrſcht in derſelben nicht bloß
vermöge des Beſitzes, ſondern auch vermöge der Idee des Staats
und ſeines Rechts, die ſie innerhalb der Grundherrlichkeit vertritt. Jetzt
nehmen auch die von ihr von der beherrſchten Klaſſe geforderten Lei-
ſtungen einen anderen Charakter an; ſie erſcheinen nicht mehr als bloß
wirthſchaftliche, ſondern als öffentlich rechtliche Leiſtungen; der Grund-
herr bekommt das Recht, die Angehörigen zu zwingen zu neuen
Leiſtungen, die er für wirkliche oder angebliche öffentliche Aufgaben
und Funktionen fordert; daß dieſelben dann mit den alten Namen be-
legt werden, ändert natürlich dieß Verhältniß nicht; und ſo entſtehen
„Zehnten“ und „Frohnden,“ welche für Verwaltungszwecke auferlegt
und gefordert werden, wie namentlich Schulzehnten, Wegefrohnden u. ſ. w.,
die mit dem Grundbeſitz des Herrn an ſich nichts zu thun haben, ſon-
dern in der That Naturalſteuern ſind, welche aber der Grundherr als
Patrimonialrichter einfordert. Hier iſt der Rechtstitel nicht mehr Lehn
oder Hörigkeit, ſondern hier iſt er ſchon die ſtaatliche Gewalt; und
damit nimmt die herrſchende Klaſſe jetzt auch die ſtaatliche Idee in
ihrer Stellung auf, indem nunmehr der Begriff und Name der („hohen“)
„Obrigkeit“ mit der Stellung der Grundherren identificirt wird. Dieſe
Stellung aber empfängt nun dadurch ihren Abſchluß, daß der Grund-
herr als perſönlicher Inhaber der Gerichtsbarkeit ſtets der geſetzliche
Richter in eigener Sache iſt
, und daher der beherrſchten Klaſſe
keine Möglichkeit mehr offen bleibt, ſich gegen die Auflagen der Guts-
herren oder die Willkür der grundherrlichen Polizei zu ſchützen, da
das Gericht dem gehört, den der Bedrückte verklagen ſoll. Das iſt der
Höhepunkt der geſellſchaftlichen Unfreiheit, wie ſie durch das Zuſammen-
wirken der Sonderintereſſen der Geſchlechter- und Ständeordnung auf
dem Lande ſich herausbildet. — Aus jenen drei großen Elementen be-
ſteht nun der Zuſtand der Gutsherrlichkeiten und der Bauern bis auf
die neueſte Zeit. Natürlich hat ſich derſelbe zu dieſer vollſtändigen
Herrſchaft der erſteren und Unfreiheit der letzteren wieder allenthalben
gleichmäßig, noch auch ohne die heftigſten Kämpfe entwickelt. Ueber-
blickt man die Karte des lehnrechtlichen Europas, ſo ſieht man die ver-
ſchiedenſten Spielarten der Abhängigkeit, unter den verſchiedenſten Na-
men, die jedoch unter oft ganz örtlicher Geltung allgemeine europäiſche
Verhältniſſe bedeuten. Eins aber iſt allen dieſen Variationen einer
derſelben Thatſache gemein — das iſt das Streben der Grundherren,
alle drei Klaſſen der alten Geſchlechterordnung in die möglichſt gleiche
Unfreiheit
hinabzudrücken, und alle mit möglichſt gleicher Härte aus-
zubeuten. Und bei völligem Mangel an ſtaatlicher Gewalt und roheſter

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[102/0120] die ſtaatlich herrſchende; ſie herrſcht nicht bloß in der Verfaſſung, ſon- dern auch in der Verwaltung, und ſie herrſcht in derſelben nicht bloß vermöge des Beſitzes, ſondern auch vermöge der Idee des Staats und ſeines Rechts, die ſie innerhalb der Grundherrlichkeit vertritt. Jetzt nehmen auch die von ihr von der beherrſchten Klaſſe geforderten Lei- ſtungen einen anderen Charakter an; ſie erſcheinen nicht mehr als bloß wirthſchaftliche, ſondern als öffentlich rechtliche Leiſtungen; der Grund- herr bekommt das Recht, die Angehörigen zu zwingen zu neuen Leiſtungen, die er für wirkliche oder angebliche öffentliche Aufgaben und Funktionen fordert; daß dieſelben dann mit den alten Namen be- legt werden, ändert natürlich dieß Verhältniß nicht; und ſo entſtehen „Zehnten“ und „Frohnden,“ welche für Verwaltungszwecke auferlegt und gefordert werden, wie namentlich Schulzehnten, Wegefrohnden u. ſ. w., die mit dem Grundbeſitz des Herrn an ſich nichts zu thun haben, ſon- dern in der That Naturalſteuern ſind, welche aber der Grundherr als Patrimonialrichter einfordert. Hier iſt der Rechtstitel nicht mehr Lehn oder Hörigkeit, ſondern hier iſt er ſchon die ſtaatliche Gewalt; und damit nimmt die herrſchende Klaſſe jetzt auch die ſtaatliche Idee in ihrer Stellung auf, indem nunmehr der Begriff und Name der („hohen“) „Obrigkeit“ mit der Stellung der Grundherren identificirt wird. Dieſe Stellung aber empfängt nun dadurch ihren Abſchluß, daß der Grund- herr als perſönlicher Inhaber der Gerichtsbarkeit ſtets der geſetzliche Richter in eigener Sache iſt, und daher der beherrſchten Klaſſe keine Möglichkeit mehr offen bleibt, ſich gegen die Auflagen der Guts- herren oder die Willkür der grundherrlichen Polizei zu ſchützen, da das Gericht dem gehört, den der Bedrückte verklagen ſoll. Das iſt der Höhepunkt der geſellſchaftlichen Unfreiheit, wie ſie durch das Zuſammen- wirken der Sonderintereſſen der Geſchlechter- und Ständeordnung auf dem Lande ſich herausbildet. — Aus jenen drei großen Elementen be- ſteht nun der Zuſtand der Gutsherrlichkeiten und der Bauern bis auf die neueſte Zeit. Natürlich hat ſich derſelbe zu dieſer vollſtändigen Herrſchaft der erſteren und Unfreiheit der letzteren wieder allenthalben gleichmäßig, noch auch ohne die heftigſten Kämpfe entwickelt. Ueber- blickt man die Karte des lehnrechtlichen Europas, ſo ſieht man die ver- ſchiedenſten Spielarten der Abhängigkeit, unter den verſchiedenſten Na- men, die jedoch unter oft ganz örtlicher Geltung allgemeine europäiſche Verhältniſſe bedeuten. Eins aber iſt allen dieſen Variationen einer derſelben Thatſache gemein — das iſt das Streben der Grundherren, alle drei Klaſſen der alten Geſchlechterordnung in die möglichſt gleiche Unfreiheit hinabzudrücken, und alle mit möglichſt gleicher Härte aus- zubeuten. Und bei völligem Mangel an ſtaatlicher Gewalt und roheſter

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/120>, abgerufen am 28.04.2024.